Masking

Masking und Camouflaging als Überlebensstrategie

Viele autistische Menschen, insbesondere Frauen, nicht-binäre Personen und People of Color haben früh gelernt, in sozialen Kontexten eine Rolle zu spielen – ganz intuitiv und oft, ohne es zunächst zu bemerken. Erst rückblickend oder im Zuge einer Diagnose wird vielen klar, wie viel Energie sie darauf verwendet haben, autistische Merkmale zu verbergen oder zu kompensieren. Dieses bewusste oder unbewusste Verhalten wird als Masking oder Camouflaging bezeichnet1. Wir verwenden hier mehrheitlich die englischen Begriffe, wobei maskieren auf Deutsch genauso funktioniert.

Was ist Masking?

Masking bedeutet, dass autistische Personen versuchen, Verhaltensweisen zu unterdrücken, zu vestecken oder zu kompensieren, die gesellschaftlich als „nicht normgerecht“ gelten. Dazu zählen etwa

  • das Vermeiden von Stimming, also beruhigenden Bewegungen wie Wippen oder mit den Fingern spielen,
  • das bewusste Imitieren neurotypischer Mimik und Gestik,
  • das Einüben von Smalltalk (Skripting),
  • das bewusste Managen des eigenen Blickkontaktes,
  • oder das gezielte Verstecken von Überforderung und Überreizung.

Dieses Verhalten ist oft so automatisiert und tief verinnerlicht, dass es in den verschiedenen sozialen Kontexten ganz automatisiert angewandt wird.

Warum wird Masking gelernt und gefördert?

Masking ist keine zufällige Entwicklung, sondern meist das Ergebnis früh erlernter Botschaften darüber, was in unserer Gesellschaft als „akzeptabel“ gilt. Schon im Kindesalter erhalten viele neurodivergente Menschen Rückmeldungen, dass ihr Verhalten „komisch“, „unhöflich“ oder „unangemessen“ sei. Wenn Eltern ihre Kinder bitten, nicht so merkwürdig zu laufen, sie beim Sprechen anzuschauen oder doch mal zu lachen, geschieht das oft nicht aus Bosheit, sondern aus Sorge. Viele Eltern wollen, dass ihr Kind „gut ankommt“, nicht ausgegrenzt wird oder „es später mal leichter hat“.

 

Auch Pädagog:innen oder Therapeut:innen reagieren häufig auf Verhalten, das nicht ins Schema passt, mit Korrektur statt mit Verständnis. Spätestens wenn die ersten schmerzhaften Mobbingerfahrungen durch Gleichaltrige gemacht wurden, lernen viele autistische Kinder, dass ihr authentisches Verhalten problematisch ist, und entwickeln Masking als Überlebensstrategie.

 

Diese Anpassung wird oft belohnt: durch Lob, durch Erleichterung im sozialen Miteinander, durch weniger Kritik von Autoritätspersonen und  Gleichaltrigen. Gleichzeitig verankert sich unbewusst die Erfahrung: Ich bin dann sicherer, wenn ich so tue, als wäre ich jemand anderes. Mein authentisches Ich ist falsch.

Die Folgen von Masking

Diese Überlebensstrategie hat einen hohen Preis. Einerseits führt sie dazu, dass Betroffene lange nicht vom Umfeld als autistisch erkannt werden. Zugang zu einer fundierten Diagnostik, Anpassungen und Hilfsmitteln bleiben so verwehrt.

 

Gleichzeitig leidet die psychische Gesundheit und die Lebenszufriedenheit unter Masking. Studien zeigen, dass ausgeprägtes Maskingverhalten erhebliche psychische und physische Folgen haben kann2. Die ständige kognitive Anstrengung, sich selbst zu regulieren, kostet enorme Energie – und die fehlt für andere Funktionen. Viele Betroffene berichten von chronischer Erschöpfung. Die Folge können Burn-out, Angststörungen, Depressionen, Selblstwertprobleme und ein erhöhtes Suizidrisiko sein. Nicht selten zeigen sich diese Symptome erst Jahre später oder werden übersehen, weil die betroffene Person nach außen „funktioniert“.

 

Und dann ist da noch das Thema mit der Identität. Wenn mensch sich in den Entwicklungsjahren sehr stark darauf bemüht, eine neurotypische Fassade zu präsentieren, bleibt kaum Zeit für die Entwicklung eines echten Identitätsgefühls. Viele Autist:innen berichten von einem Gefühl, im eigenen Leben eine Rolle zu spielen und wissen eigentlich gar nicht so richtig, wer sie hinter ihrer Maske sind.


Frauen und geschlechtsdiverse Personen maskieren autistische Merkmale übrigens deutlich stärker als cis-Männer3. Aus diesem Grund sind nicht-cis-männliche Autist:innen auch eher von psychischen Komorbiditäten betroffen.

Zwischen Schutz und Selbstverlust: Die Balance finden

Masking ist nicht per se negativ und es ist wichtig, die Strategie in ihrer Sicherheitsfunktion als solche zu würdigen. Es kann in bestimmten Kontexten ein notwendiger Schutz sein – zum Beispiel dort, wo ein authentisches Verhalten mit ernsthaften Nachteilen verbunden wäre. Doch langfristig brauchen neurodivergente Menschen Räume und Beziehungen, in denen Masken abgelegt werden dürfen. Dieses sogenannte Unmasking ist ein individueller Prozess, bei dem es darum geht, die eigenen Bedürfnisse wiederzuentdecken, sensorische Besonderheiten anzuerkennen, Stimming zuzulassen und ein Umfeld zu suchen oder zu gestalten, das Resonanz statt Anpassung ermöglicht.

 

Unmasking bedeutet nicht, dass man immer und überall „ungeschützt“ ist, sondern dass man bewusst entscheidet, wann und wo man sich wie zeigen kann und darf. Es ist oft ein emotional herausfordernder, aber auch zutiefst befreiender Weg hin zu mehr Selbstakzeptanz und besserer Bedürfnisbefriedigung.

 

Darüber hinaus hat Unmasking auch eine gesellschaftliche Dimension: Nur wenn neurodivergente Menschen sichtbar sind, kann sich die Gesellschaft an Vielfalt gewöhnen. Wenn alle Autist:innen sich  verstecken, entsteht der falsche Eindruck, es gäbe kaum neurodivergente Menschen und damit bei den neurotypischen Menschen auch keine Notwendigkeit, sich auf ihre Bedürfnisse einzustellen oder Andersartigkeit als Teil des Normalen zu begreifen.

Was neuroaffirmative Umfelder beitragen können

Masking ist keine individuelle Schwäche, sondern eine soziale Reaktion auf Umfelder, die neurodivergentes Verhalten pathologisieren. Die Verantwortung liegt also nicht allein bei den Betroffenen, sondern auch bei ihrem Umfeld. Eltern, die bereit sind, das Verhalten ihres Kindes nicht zu bewerten, sondern neugierig zu begleiten, können ein starkes Fundament für Selbstannahme legen. Pädagog:innen, die neurodivergente Ausdrucksformen als Teil von Vielfalt erkennen, schaffen sichere Lernräume. Freund:innen, Kolleg:innen und Partner:innen, die nicht irritiert auf Anderssein reagieren, sondern empathisch und wertschätzend, ermöglichen Beziehungen ohne Maskenzwang.

Wenn neurodivergente Menschen sich nicht mehr dauerhaft verstellen müssen, entsteht Raum für Entwicklung, Kreativität, emotionale Gesundheit und echte Zugehörigkeit.

    1. Hull, L., Mandy, W., Lai, M.-C., Baron-Cohen, S., Allison, C., Smith, P., & Petrides, K. V. (2019). Development and validation of the Camouflaging Autistic Traits Questionnaire (CAT-Q). Journal of Autism and Developmental Disorders, 49(3), 819–833. https://doi.org/10.1007/s10803-018-3792-6 ↩︎
    2. Hull, L., Petrides, K. V., Allison, C., Smith, P., Baron-Cohen, S., Lai, M.-C., & Mandy, W. (2021). Is social camouflaging associated with anxiety and depression in autistic adults? Molecular Autism, 12(1), 13. https://doi.org/10.1186/s13229-021-00421-1 ↩︎
    3. Hull, L., Lai, M.-C., Baron-Cohen, S., Allison, C., Smith, P., & Mandy, W. (2020). Gender differences in self-reported camouflaging in autistic and non-autistic adults. Autism, 24(2), 352–363. ↩︎

1 Kommentar zu „Masking“

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