Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter

"Wieso kannst du nicht einfach so herrlich normal sein?"

Der Versuch, „herrlich normal“ zu sein- Masking als Überlebensstrategie

Dass ich „irgendwie anders“ bin, habe ich bereits als kleines Kind gespürt. Irgendwie haben die anderen Kinder einfach eine andere Sprache gesprochen, anders gespielt, gefühlt, sich verhalten. Ich habe versucht, mir diese „andere Sprache“ anzueignen, die Vokabeln zu lernen, zu kompensieren, mich anzupassen, zu funktionieren. Ich habe versucht, die Erwartungen meines Umfelds zu erfüllen, einfach „normal“ zu sein und eine Rolle einzunehmen.

 

Doch die gesellschaftlichen Erwartungen, die sozialen Dynamiken und Verhaltensregeln, meine Rolle in sozialen Gefügen – all das ist im ständigen Wandel. In der Grundschule habe ich ausprobiert, welche Version von mir selbst am besten ankommt. Die Ruhige und Schüchterne? Oder doch lieber die Laute, Überdrehte? Mein Verhalten fiel den anderen Kindern auf und es kam bereits in der Grundschule ständig zu Konflikten, Missverständnissen und Schwierigkeiten.

 

 

Der Zusammenbruch- ich funktioniere nicht mehr

Mit Beginn der Pubertät, als sich alles radikal veränderte und die nächsten Jahre von Mobbingerfahrungen geprägt waren, eskalierte das Ganze, und ich entwickelte eine schwere Essstörung. Es war nun nach außen sichtbar, dass offensichtlich nicht alles okay ist.

 

Dennoch versuchte ich nach meinem ersten Klinikaufenthalt weiter, sozialen Anschluss zu finden, mich und meine Rolle in der Gesellschaft zu identifizieren und zu funktionieren.

 

 

Arbeit, Studium, Alltag- ein permanentes Scheitern

Nachdem ich die Schulzeit überlebt hatte, ging die Identitätssuche weiter. Ich begann eine Arbeit im sozialen Bereich, die ich schließlich aufgrund der hohen Belastung aufgeben musste. Es folgte ein Jobwechsel, doch auch den musste ich nach einem Jahr aufgeben. Ich war chronisch überfordert und erschöpft, kam mit den Arbeitszeiten nicht zurecht, war den Belastungen nicht gewachsen – und zudem essstörungsbedingt einfach zu krank. Nachdem ich ein paar Monate arbeitslos war, begann ich den nächsten Job – mit demselben Ergebnis.

 

Parallel hatte ich diverse Versuche des Studierens in unterschiedlichen Modellen unternommen, bis ich irgendwann akzeptieren musste: Ich werde es niemals schaffen, an einer öffentlichen Hochschule zu studieren – mit völlig unvorhersehbaren Stundenplänen, der Bahnfahrt in eine Großstadt, einer riesigen Uni mit großen Kursen, gefühlt nur Gruppenarbeiten, einer Mensa und all den Reizen. Allein der Gedanke daran löste Panik in mir aus.

 

Seitdem ich aus meinem Elternhaus ausgezogen war, schaffte ich es nicht, selbstständig zu leben, mich ausreichend zu versorgen, meinen Alltag und meine Wohnung zu strukturieren und zu organisieren, soziale Kontakte zu pflegen, einen Überblick über meine Finanzen und Bürokratie zu behalten und im Leben weiterzukommen.
Aber warum? Bin ich einfach zu blöd? Oder faul? Alle um mich herum schaffen es doch – und finden es sogar geil!

 

Ich fühlte mich falsch, wertlos und habe mich massiv abgewertet. Ich entwickelte Wut und Hass gegenüber mir selbst.

 

 

Ich bin anders, aber wieso?- Mein Weg zur Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter

Und so fragte auch ich mich mit 24 – immer noch essgestört und mein Leben nicht im Griff:

 

„Wieso kann ich nicht einfach so herrlich normal sein?“

 

Ich war zu diesem Zeitpunkt bei der ersten Therapeutin, die mich gesehen und ernst genommen hat. Sie war die Erste, die ihren Blick erweitern konnte und hinterfragte, was denn eigentlich hinter der Essstörung und diversen zuvor gestellten Fehldiagnosen stecken könnte. Nachdem ich selbst meinen Verdacht auf eine mögliche Autismus-Diagnose äußerte, versuchten wir, an eine Diagnostik zu kommen.

 

Das war deutlich schwerer als erwartet. Die wenigen Spezialambulanzen für Autismus im Erwachsenenalter haben jahrelange Wartezeiten oder die Wartelisten sind direkt geschlossen. Die Diagnostik bei niedergelassenen Therapeut:innen wird in der Regel nicht von den Krankenkassen übernommen und bei den wenigen, die mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen können, bekommt man natürlich auch keinen Platz.

 

Schließlich erhielt ich eine Adresse von einem Facharzt in Gießen, der mir gleich im ersten Gespräch signalisierte, dass er nicht daran glaubt, dass Autismus bis ins Erwachsenenalter nicht erkannt wird – und auch nicht daran, dass erwachsene Frauen betroffen sein könnten. Er schrieb mir ein Gutachten, in dem er zwar Hinweise auf das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung identifizieren konnte, dies aber einer „nicht näher definierten Persönlichkeitsstörung“ zuordnete.

 

Ich blieb zurück in meiner bestätigten Annahme, dass ich wohl tatsächlich einfach zu komisch, falsch, gestört, nutzlos, faul und dumm für diese Welt bin. Und dafür gibt es auch einfach keine Erklärung.

 

 

Endlich Gewissheit- der Wendepunkt

Es dauerte ein Jahr, bis ich es erneut wagte, mich diagnostizieren zu lassen. Inzwischen hatte sich meine eigene Therapeutin intensivst über ein Jahr lang weitergebildet, sich auf globaler Ebene mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandergesetzt, mit Fachkräften vernetzt – und dann dementsprechend die Diagnose mit den modernsten Testverfahren gestellt. Autismus im Erwachsenenalter ist inzwischen ihr Praxisschwerpunkt. Ich hatte so nicht nur das Glück, auf wissenschaftlicher Ebene eine sehr gesicherte Diagnose zu haben, sondern auch, dass sie die Person ist, die mich mit Abstand am besten kennt. Bei ihr kann ich unmaskiert sein. Sie kennt meine gesamte Biografie und weiß ganz genau und konkret, worin die alltäglichen Herausforderungen liegen. Zudem hatten wir nicht die üblichen drei Termine zur Diagnostik, sondern knapp zwei Jahre gemeinsame Therapieerfahrung.

 

Und siehe da: Ich habe tatsächlich nach all den Jahren gleich mehrere Tests bestanden – und das mit sehr hoher Punktzahl! 😊

 

Das war mein Wendepunkt im Leben. Ich wusste nun, dass ich nicht falsch und wertlos bin, nur weil ich in keinem System „richtig“ zu sein scheine. Ich bin nicht dumm, faul oder überempfindlich – ich habe eine Reizfilterungsstörung und bin mein Leben lang über meine Belastungsgrenze gegangen. Ich kann mich nicht weiterhin an neurotypischen Maßstäben messen und folglich „so herrlich normal“ sein wie frühere Schulkamerad:innen, die inzwischen ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben, um die Welt gereist sind, ihrer Arbeit nachgehen und selbstständig ihr Leben managen können.

 

Ich bin anders- und jetzt?

Was passiert eigentlich, wenn ich aufhöre, ein „normales Leben“ anzustreben? Wer bin ich ohne meine Maske? Wie kann ich mich selbst finden und verwirklichen?

 

Ich wollte von meinem Umfeld endlich verstanden werden – in all dem, was mich ausmacht und wieso mein Leben so verlaufen ist. Ich wollte in allen Aspekten gesehen werden: in meiner Individualität, in meinen Fähigkeiten, aber auch in meinem erfahrenen Leid. Ich wollte diese verdammte Essstörung dafür nicht mehr brauchen.

 

 

Invalidierung und Unverständnis

Ziemlich schnell musste ich leider erkennen, dass mein Kampf um Akzeptanz, Wertschätzung und Respekt weitergeht. Ich erlebe ständiges Invalidieren und muss mich konstant erklären und rechtfertigen. Manchmal denke ich sogar, ich fake das alles nur, weil ich so verunsichert bin.

 

Nach all den Jahren des starken Maskierens ist es für mein Umfeld nicht nachvollziehbar, „wo dieser Autismus auf einmal herkommt“. Meine Versuche der Authentizität werden so aufgefasst, dass ich „auf einmal total autistisch bin“ und „früher ja alles gut“ gewesen sei. Kommentare wie diese wirken sich unheimlich destruktiv und destabilisierend auf mich aus. Ich werde in meinen eigenen kranken Gedanken bestätigt – und sie kommen von den Menschen, von denen ich unbedingt akzeptiert und gesehen werden möchte.

 

Es sind schmerzhafte Erfahrungen, die mir signalisieren: Wenn du deine Neurodivergenz nicht maskierst, so bist, wie du eben bist, und zu dir stehst: dann bist du falsch.

 

Ich kämpfe also doppelt: gegen meine eigene fehlende Selbstakzeptanz und die meines Umfelds. Den ersten Kampf kann ich zum Glück gewinnen.

 

 

Vom Selbsthass zur Selbstakzeptanz- eine Neubewertung des Selbst

Wenn ich mir früher Kindheitsfotos angeschaut habe, entwickelte ich puren Hass. Ich war wütend auf dieses Mädchen, das so anders – oder auch, so angepasst, klein und wertlos ist.

 

Von meiner Therapeutin erhielt ich schließlich die Hausaufgabe, Fotos auszuwählen und einen Brief an dieses Kind zu schreiben: wertschätzend, mit Mitgefühl und liebevoll.

 

Mein Kindheits-Ich hat keine Ablehnung verdient, sondern Verständnis, Wärme und Liebe. Und da gibt es Einiges nachzuholen.

 

 

Mit Mut zum „herrlich anders“-sein in die Zukunft

Der Erhalt meiner Autismus-Diagnose hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin – und wofür ich stehe: dafür, dass wir gesehen und wertgeschätzt werden; dass neurologische Vielfalt gesamtgesellschaftlich anerkannt und betrachtet wird; dass die Vorstellung von Neurodivergenz geschlechtssensibler, inklusiver und vielfältiger wird; und dass wir uns nicht für unsere Individualität rechtfertigen oder erklären müssen.

 

Wenn ich mich also heute frage, wieso ich nicht einfach so „herrlich normal“ sein kann, dann antworte ich:
Ich muss das auch nicht.

 

Ich kann mir jetzt sichere Räume und Beziehungen schaffen, in denen ich einfach sein darf. Ich, unmaskiert, autistisch- einfach Marlene. Wer genau das ohne die Maske ist, muss ich noch herausfinden. Aber ich kann diese Marlene erst kennenlernen, wenn ich sie auch zeige.

 

Allgemeine Informationen zur aktuellen Situation der Autismus-Diagnostik in Deutschland sowie zu Beratungs- und Informationsstellen erhaltet ihr beim Bundesverband Autismus e.V

 

 

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