Unmasking Marlene
Bevor ich mich mit dem Gedanken befassen konnte, mein ausgeprägtes Maskierungsverhalten auch mal abzulegen, musste ich zunächst einmal selbst reflektieren, wie viel Energie ich bisher darauf verwendet habe, meine autistischen Merkmale zu unterdrücken und zu kompensieren.
Mir war bis zu meiner Diagnose tatsächlich nicht bewusst, dass es für andere Menschen nicht normal ist, jede einzelne soziale Handlung bis ins Detail zu durchdenken und zu planen, soziale Dynamiken zu analysieren, Verhalten, Mimik, Gestik, Betonungen und Redewendungen an die jeweilige soziale Situation, das Gegenüber und den Kontext anzupassen. Andere Menschen tun dies scheinbar nur in besonderen Situationen. Beispielsweise ist es normal, sich in Anwesenheit einer Autoritätsperson anders zu verhalten als im Kontakt mit Gleichaltrigen oder Verwandten. Ich hingegen spiele in allen unterschiedlichen sozialen Gefügen eine andere Rolle und überdenke alles. Nichts davon fühlt sich natürlich an – und ich weiß nach all den Jahren der hohen Schauspielkunst selbst nicht mehr, wer ich eigentlich hinter der Maske bin.
Erste Schritte ohne Maske- wie meine Therapeutin mir half, mich zu zeigen
Meine derzeitige ambulante Therapeutin war die erste Person, die mich dazu eingeladen hat, damit mal aufzuhören.
Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt in einer körperlichen und psychischen Ausnahmesituation. Mein System des Maskierens fing immer mehr an, zu kollabieren.
Immer wieder berichtete ich ihr davon, wie komisch und anders ich mich fühle. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, dass mich irgendein Lebewesen (außer meinem Hund – der macht das prima) in meiner Andersartigkeit und Weirdness akzeptieren könnte. Ich hatte diese Erfahrung zuvor in meinem Leben nicht gemacht.
Bis sie mir irgendwann sagte: „Aber ich mag komisch. Meine Familie ist komisch und meine Tiere auch.“ Ich war völlig verwirrt. Wieso mag sie „komisch“? Ist die jetzt etwa auch kaputt?
Nein, das ist sie nicht ;).
Aber es dauerte weitere Wochen und Monate intensivster Überzeugungsarbeit, bis ich begriff, dass sie nicht nur „komisch“ mag, sondern auch mich. Und zwar im immer mehr Marlenesein. Ich dachte zuvor, ich sei das Problem – weil ich kaputt bin und nichts auf die Reihe bekomme. Aber dann sagte sie mir mal: „Am Anfang wollte ich Sie reparieren, aber das ist Blödsinn. Wir müssen nur die Welt um Sie herum reparieren. Sie sind okay.“
Eine neue Art der Beziehung- Angenommen werden im Ichsein
Noch nie habe ich mich so angenommen gefühlt in meinem Leben. Es war das erste Mal, dass jemand so etwas zu mir gesagt hat und damit mich in meiner Eigenheit und nicht eine meiner Masken angesprochen hat.
Von diesem Zeitpunkt an habe ich keine Energie mehr darauf verschwendet, in diesem sicheren Rahmen, den mir meine Therapeutin bietet, meine autistischen Merkmale zu unterdrücken. Ich kommuniziere, wenn mir etwas zu viel ist und ich reizüberflutet bin. Ich suche Rat im Umgang mit Shutdown- und Burnout-Zuständen, lasse mir implizite soziale Signale erklären, frage nach, wenn ich etwas nicht verstehe und bin dankbar für die offene und ehrliche Kommunikation. Wenn wir Expos machen, ermutigt sie mich dazu, meine Hilfsmittel wie Kopfhörer oder Fidgets zu nutzen.
Ich muss mich vor ihr für nichts rechtfertigen oder erklären. Wenn ich reizüberflutet, angespannt oder überfordert bin, nimmt sie es einfach hin und unterstützt mich im Umgang damit.
Ich habe dabei etwas sehr Wichtiges gelernt: Soziale Interaktion muss nicht maskiert, geskriptet und unfassbar anstrengend sein! Man kann und darf sich auch angenommen, sicher und wohl dabei fühlen.
Herausforderung Klinik- Mut zur Authentizität unter Gleichaltrigen
Inzwischen stand mein dritter Klinikaufenthalt bevor – aufgrund der Schwere und Komplexität meiner Essstörung. Zugleich war es der erste mit diagnostiziertem Autismus.
Die Zeit vor der Klinik war geprägt von Angst. Ich wusste, dass mich eine radikale Veränderung erwartet, die ich nicht vorhersehen oder planen kann. Das Setting mit 26 Gleichaltrigen, einer riesigen Klinik, Menschenmengen, dem Zwang zur sozialen Interaktion den ganzen Tag, Gruppentherapien und wenig Raum für Rückzug und Isolation war für mich ein absolutes Horrorszenario.
Meine Therapeutin und ich hatten die Idee, dieses Setting außerhalb meines privaten Umfelds zu nutzen, um mich auch hier darin zu üben, authentisch zu sein. Der Gedanke daran war erstmal gruselig.
Nach all den Jahren Mobbing, sozialer Ablehnung und Ausgrenzung, die ich erfahren hatte, wollte ich einfach nur noch in Ruhe gelassen werden. Aber ich brauchte dringend eine korrektive Erfahrung, um mich nicht wieder radikal zu isolieren und in die Essstörung zu flüchten.
Meine Essstörung hat zudem unter anderem die Funktion, meinen Autismus zu maskieren – mir eine andere Rolle und Identität zu geben und mich vor gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen zu schützen, die ich ohnehin nicht erfüllen kann. Und die soll ja weg. Ehrlich gesagt hatte ich aufgrund der körperlichen Erschöpfung, dauerhaften Reizüberflutung, Hochanspannung, Panikattacken, den Shutdowns und Burnout-Zuständen während des Aufenthalts auch einfach keine Kraft und Energie mehr zum Maskieren.
Ich habe mich erstmals außerhalb des sicheren Rahmens bei meiner Therapeutin getraut, ein bisschen mehr ich selbst zu sein. Bereits in der ersten Gruppentherapie habe ich mich und meine Situation erklärt und den Mitpatientinnen gesagt, dass mich soziale Interaktion – besonders in Gruppenkonstellationen – extrem überfordert, stresst und mir Angst macht. Dass ich dennoch sehe, wie sie versuchen, auf mich zuzugehen, ich in meiner Überforderung allerdings abweisend wirken kann – was keinesfalls so gemeint ist.
Im Gegensatz zu meinem privaten Umfeld, in dem nur meine Eltern meine Diagnose kennen, wussten meine Mitpatientinnen vom ersten Tag an, dass ich autistisch bin.
Ich habe meine Kopfhörer auf den Gängen, im Gebäude, im Speisesaal, in Gruppentherapien und in der Stadt getragen – damit ich nicht bereits um 10 Uhr morgens entweder eine Panikattacke bekam oder wieder schlafen musste. Ich habe keinen Blickkontakt zu Menschen gehalten, bei denen mir das extrem schwerfiel. Ich habe meine Skills mit zu den Therapien genommen und habe Methoden zur Selbstregulation (engl.: stimming) nicht versteckt. Ich war weird, wahrscheinlich manchmal unzugänglich und vielen rätselhaft. Aber so bin ich eben auch.
Meine Mitpatientinnen waren teils verunsichert und haben sich nicht getraut, auf mich zuzugehen. Sie haben mir meine Grundüberforderung angesehen, waren bei Panikattacken dabei und haben es mitbekommen, wenn ich die Gruppe mal wieder fluchtartig verlassen musste oder mich völlig erschöpft abends in den Speisesaal gequält habe.
Diejenigen, die mich erst später kennengelernt haben und meine Geschichte nicht kannten, fanden mich vermutlich auch einfach komisch. Ich hatte meistens Kopfhörer auf, konnte nur auf einem bestimmten Platz in der Ecke sitzen – und wenn dieser belegt war, bin ich auch gelegentlich kommentarlos aufgestanden und gegangen, weil ich sonst aus Überforderung angefangen hätte zu weinen.
Aber: Meine Ängste haben sich nicht bestätigt!
Authentisch komisch- Die Reaktionen meiner Mitpatientinnen
Ja, ich war weird, anders, unmaskiert, offen autistisch. Aber niemand hat mich deswegen abgelehnt!
Ich wurde von meinen Mitpatientinnen so angenommen, wie ich bin. Sie haben mir Freiraum gegeben, wenn ich ihn gebraucht habe, und mich dann in Ruhe gelassen. Sie haben aber auch jederzeit ihre Unterstützung angeboten und gefragt, ob und wie sie mir helfen können.
Wenn ich dissoziiert bin oder eine Panikattacke hatte und es mal wieder niemand aus dem Klinikpersonal bemerkt hat, haben sie Hilfe geholt- mich aus dem Raum genommen, mir ein Kühlpack zum Skillen gebracht und mit mir geatmet.
Auf für mich völlig unerwartete, überraschende und zugleich liebenswerte Art und Weise haben sie mir ehrlich gemeinte Komplimente gemacht, mir gesagt, dass sie mich cool und witzig finden und mögen. Ich habe nicht verstanden, wieso, aber mich sehr über diese heilsamen Erfahrungen gefreut.
In meinem Tagebuch, das ich während meines ersten Klinikaufenthalts vor zehn Jahren geführt habe (damals 14 Jahre alt und noch nicht diagnostiziert), schrieb ich: „Warum bin ich so anders als alle anderen? Wieso bin ich nirgends richtig? Ich passe hier einfach nicht rein. Ich gehöre nirgends dazu. Ich will nach Hause!“
So fühlte ich mich leider in sämtlichen sozialen Kontexten.
Ich bin okay
Nach meiner Autismus-Diagnose und den ersten positiven Unmasking-Erfahrungen aber habe ich gelernt: Es stimmt. Ich bin anders. Und ich passe auch nirgends richtig rein. Besonders dramatisch: Nach der Essstörungsbehandlung ja nicht mal in meine Klamotten!
Aber das ist schon okay. Ich bin okay. Ich bin trotzdem richtig, und an mir ist nichts falsch.
Genau wie meine Therapeutin mir bereits Monate zuvor gesagt hatte 🙂
All diese Erfahrungen möchte ich mitnehmen in mein weiteres Leben und mich auch zu Hause trauen, sichere Rahmen, Orte und Beziehungen zu nutzen, um authentisch autistisch zu sein.
Ich darf meine Bedürfnisse kommunizieren, meine Grenzen wahren und auf mich aufpassen. Ich darf meine Hilfsmittel nutzen, mit unästhetischen Baustellenkopfhörern durch die Gegend laufen und Stimming Methoden anwenden – auch, wenn die Leute dann dämlich glotzen. Das braucht mich nicht zu interessieren, denn ich muss es auch nicht erzwingen, sie dabei anzuschauen.
Es wird vermutlich ein Austesten und Abwägen bleiben, in welchen Rahmen und Beziehungen es sich für mich „sicher“ anfühlt und ich mich traue, authentisch zu sein. Ich werde nicht immer positiven Zuspruch erhalten und akzeptiert werden. Ich werde auch mit negativen Erfahrungen, Abwertung, Diskriminierung und Ausschluss umgehen lernen müssen. Aber solange ich mich dann nicht – wie bisher – selbst dafür ablehne und hasse, wird es schon okay sein.
Ich bin okay.
Einen allgemeinen Informationsbeitrag rund um das Thema Masking findet ihr hier.