Autismus

Was ist Autismus?

Eine aktuelle Übersicht mit Diagnosekriterien, Prävalenzdaten und Ursachen

Autismus ist keine neue Erscheinung, aber unser Verständnis davon hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Während man früher von einer „seltenen Entwicklungsstörung“ sprach, sehen wir heute: Autismus ist eine neurobiologische Variante menschlicher Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Interaktion mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen, die wir durch alle Gesellschaftsschichten und in allen Kulturen finden. 

Autismus Wortwolke

Was genau ist Autismus?

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) beschreiben eine Gruppe angeborener neurobiologischer Besonderheiten. Menschen im Autismus-Spektrum verarbeiten Informationen anders, insbesondere in den Bereichen:

  • soziale Interaktion,
  • Kommunikation,
  • Wahrnehmung und Reizverarbeitung,
  • Routinen und Interessen.

Autistische Menschen sind nicht „weniger“, „verzögert“ oder „defizitär“, sondern schlicht neurologisch, kognitiv und sensorisch anders strukturiert. Sie erfahren vor allem dadurch Nachteile, da sie sich als Neuro-Minderheit in einer Welt bewegen müssen, die eigentlich für allistische (=nicht autistische) Menschen gemacht wurde.

Ein kurzer Blick zurück: Die Geschichte der Autismus-Diagnose

Die Geschichte der Autismusdiagnose beginnt in den 1940er Jahren – mit zwei voneinander unabhängigen Beschreibungen:

 

Leo Kanner veröffentlichte 1943 eine Fallserie von elf Kindern mit „frühkindlichem Autismus“. Er beschrieb sie als sprachlich und emotional zurückgezogen, mit einem Bedürfnis nach Gleichförmigkeit und außergewöhnlichen Detailinteressen.

 

Hans Asperger stellte 1944 in Wien eine andere Gruppe von Kindern vor: mit auffälliger Motorik, eingeschränktem Sozialverhalten, aber gut entwickelter Sprache und oft überdurchschnittlicher Intelligenz.

 

Ab den 1980er Jahren wurde Autismus als Diagnose in internationale Klassifikationssysteme aufgenommen. Die DSM- und ICD-Versionen differenzierten lange Zeit zwischen Unterformen wie „Asperger-Syndrom“ oder „atypischer Autismus“. Heute spricht man in den aktuellsten Versionen der großen Klassifikatione von einem Autismus-Spektrum, also einer Bandbreite unterschiedlicher Ausprägungen.

Diagnosekriterien im Vergleich: ICD-10, ICD-11 und DSM-5-TR

Autismus wird je nach Klassifikationssystem unterschiedlich definiert. Hier eine übersichtliche Gegenüberstellung:

ICD-10 (in Deutschland weiterhin für Abrechnung und Diagnostik gültig)

Autismus wird unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84) geführt. Es wird unterschieden in:
  • Frühkindlicher Autismus (F84.0)
  • Atypischer Autismus (F84.1)
  • Asperger-Syndrom (F84.5)
Kernkriterien:
  • Qualitative Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion
  • Eingeschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster
  • Störungen in Kommunikation und Sprache
  • Beginn vor dem 3. Lebensjahr
Obwohl die ICD-11 international seit 2022 in Kraft und die ICD-10 hoffnungslos veraltet ist, wird in Deutschland in Diagnostik und Abrechnung  weiterhin die ICD-10-GM verwendet. Grund dafür sind die enge Anbindung an das Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenkassen und die noch ausstehende Umstellung der technischen und organisatorischen Infrastruktur.

ICD-11 (international gültig)

Die ICD-11 fasst alle Unterformen unter dem Begriff Autism Spectrum Disorder (6A02) zusammen.

Kernkriterien:

  • Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation
  • Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten
  • Optional: sensorische Auffälligkeiten (Über- oder Unterempfindlichkeit)

Zusätzlich kann kodiert werden, ob eine intellektuelle Beeinträchtigung oder eine funktionale Sprache vorliegt. In der ICD-11 wird der Schweregrad nicht mehr über Unterformen definiert, sondern anhand von Zusatzangaben zur funktionalen Sprache, zur kognitiven Leistungsfähigkeit und zum Unterstützungsbedarf in sozialen und alltagspraktischen Bereichen beschrieben.

DSM-5-TR (US-amerikanische Klassifikation)

Ebenfalls ein Spektrum ohne Unterformen wie „Asperger“.

Kernkriterien:

  • Anhaltende Defizite in sozialer Kommunikation und Interaktion (alle drei Kriterien müssen erfüllt sein)
  • Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster oder Interessen (mindestens zwei von vier Kriterien)
  • Symptome müssen im frühen Kindesalter vorgelegen haben (müssen aber nicht vollständig manifest gewesen sein)
  • Klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen im Alltag

Besonderheit: Das DSM-5 integriert sensorische und Reizverarbeitungsbesonderheiten und ihre Relevanz für die Lebensgestaltung als diagnostisches Kriterium.

Wie häufig ist Autismus?

Die Häufigkeit von Autismus wurde früher stark unterschätzt. Heute liegen die Prävalenzschätzungen deutlich höher: Weltweit sind nach aktuellen Studien ca. 1 % der Bevölkerung betroffen1. In den USA (CDC 2023) sind es sogar 1 von 36 Kindern (etwa 2,8 %)2. Für Deutschland existieren keine systematischen Registerdaten; Schätzungen orientieren sich an internationalen Zahlen (ca. 1 %). Die gestiegenen Zahlen sind vor allem auf breitere Diagnosekriterien, bessere Erkennung und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein zurückzuführen (und nicht auf eine tatsächliche Zunahme der Häufigkeit!).

Ursachen und Risikofaktoren für Autismus

Autismus entsteht durch ein Zusammenspiel biologischer, genetischer und möglicherweise umweltbezogener Einflüsse. Er ist keine psychische Störung im engeren Sinne und keine Folge von Traumatisierung oder elterlichem Verhalten. Gesicherte Risikofaktoren:
  • Genetische Prädisposition: Zwillingsstudien zeigen Konkordanzraten von bis zu 76 % bei monozygoten (eineiigen) Zwillingen gegenüber ca. 34 % bei dizygoten (zweieiigen) Zwillingen3. Das Risiko für Geschwister liegt bei ca. 10–20 %, gegenüber ca. 1 % in der Allgemeinbevölkerung. Es sind hunderte genetische Varianten bekannt, die in der Summe das Risiko erhöhen, jedoch keine einzelne „Ursache“.
  • Atypische Gehirnentwicklung: Bereits im zweiten Trimester lassen sich in bildgebenden Verfahren strukturelle Unterschiede bei autistischen Föten nachweisen, z. B. in der kortikalen Dicke oder Konnektivität4.
  • Perinatale Faktoren: Frühgeburt (< 37. SSW), niedriges Geburtsgewicht (< 2.500 g) oder Schwangerschaftskomplikationen sind mit einem leicht erhöhten Risiko assoziiert.

Erklärungsmodelle

Autismus lässt sich (bisher) nicht mit einem einzigen theoretischen Modell vollständig erfassen und wir haben aktuell unterschiedliche wissenschaftliche Erklärungsansätze für dieses facettenreiche Bild.

 

Das Monotropismus-Modell beschreibt, dass autistische Menschen ihre Aufmerksamkeit nicht breit streuen, sondern tief und fokussiert auf wenige Reize oder Themen richten. Dieses Aufmerksamkeitsprofil erklärt sowohl die intensive Beschäftigung mit Spezialinteressen als auch die Überforderung bei plötzlichen Reizwechseln oder multitaskingintensiven Situationen.5

 

Die Theorie der verstärkten Wahrnehmungsverarbeitung („Enhanced Perceptual Functioning“) geht davon aus, dass autistische Menschen sensorische Informationen (visuelle, auditive, taktile und andere) auf niedriger Hierarchieebene differenzierter und intensiver verarbeiten als neurotypische Personen. Diese Wahrnehmungsweise ermöglicht eine außergewöhnliche Detailerfassung, kann aber auch zur Reizüberflutung führen.6

 

Das Konzept der schwachen zentralen Kohärenz („Weak Central Coherence“) liefert ebenfalls eine Erklärung für diese Detailfokussierung: Es beschreibt ein geringeres neuronales Bedürfnis, Informationen zu glätten oder zu vereinfachen. Dadurch können Einzelaspekte besonders präzise wahrgenommen werden, oft auf Kosten des „großen Ganzen“, was aber auch kreative oder analytische Vorteile mit sich bringen kann.7

 

Das viel zitierte Theory of mind Modell wird zunehmend kritisch gesehen, da es auf defizitorientierten Annahmen beruht und autistischen Menschen pauschal eine eingeschränkte Fähigkeit zur Perspektivübernahme zuschreibt. Außerdem werden viele Phänomene autistischen Lebens gar nicht berücksichtigt.8

 

Neurowissenschaftliche Ansätze wie die Theorie der atypischen Konnektivität zeigen schließlich, dass autistische Gehirne tendenziell stärker lokal und schwächer global vernetzt sind. zeigen schließlich, dass autistische Gehirne tendenziell stärker lokal und schwächer global vernetzt sind. Diese Verarbeitungsarchitektur begünstigt spezialisierte, kontextunabhängige Informationsverarbeitung, kann aber gleichzeitig zu erhöhter Integrationslast führen, insbesondere in sozialen oder unübersichtlichen Situationen. Solche Befunde schlagen eine wichtige Brücke zwischen neuronaler Struktur und erlebter Alltagsrealität autistischer Menschen.9

 

Autismus im Alltag: Vielfalt statt Stereotypen

Menschen im Autismus-Spektrum erleben häufig komplexe soziale und sensorische Herausforderungen, die sich in verschiedenen Alltagssituationen manifestieren:

Schwierigkeiten bei nonverbaler Kommunikation und sozialen Konventionen

  • Viele meiden oder reduzieren Blickkontakt, nicht aus Desinteresse, sondern weil dieser übermäßig stimulierend wirkt. Dies von allistischen Menschen jedoch leicht als Unaufmerksamkeit oder Unhöflichkeit interpretiert.
  • Das Erkennen und Ausdrücken von Mimik oder Körpersprache erfolgt häufig reduziert, was zu Missverständnissen mit allistischen Menschen führen kann.

Small Talk und soziale Routinen

  • Alltägliche Interaktionen wie Small Talk oder informelle Gespräche sind häufig anstrengend, da neurotypische soziale Regeln nicht intuitiv erfasst, sondern aktiv analysiert, gelernt und angewendet werden müssen, oder werden als überflüssig und uninteressant erlebt.
  • Das Verständnis für und die Einordnung in Hierarchien ist für viele Autist:innen schwierig, was vor allem im beruflichen Kontext zu Problemen führen kann.

Bedürfnis nach Routinen und Vorhersehbarkeit

  • Gleichförmige Tagesabläufe, Rituale und strikte Strukturen bieten Sicherheit und reduzieren kognitive Belastung. Unerwartete Veränderungen führen oft zu Stress. Eine Änderung in der Morgenroutine kann den ganzen Tag ruinieren.

Intensive Spezialinteressen & Fokussierung

  • Ausdauerndes Engagement für ein oder wenige Themen, oft verbunden mit hoher Expertise und einem ausgeprägten Bedürfnis, darüber zu sprechen (Infodumping) oder zu recherchieren. 

Sensorische Empfindlichkeiten

  • Geräusche, Licht, Gerüche oder Berührungen werden vielfach als überwältigend, ablenkend oder unerträglich wahrgenommen. Gleichzeitig kann es ein intensives Interesse an bestimmten sensorischen Erfahrungen oder eine Begeisterung dafür geben.

Autismus ist keine Krankheit

Autismus ist ein Bestandteil menschlicher Neurodiversität – keine Pathologie, die „behandelt“ werden muss, keine Entwicklungsverzögerung, die man „wegfördern“ kann. Autistische Menschen benötigen keine Korrektur, sondern Umgebungen, in denen ihre Art zu denken, zu fühlen und zu kommunizieren nicht zum Nachteil wird.

Wenn Gesellschaft, Bildung, Arbeitswelt und Therapie sich auf neurodivergente Bedürfnisse einstellen, zeigt sich das, was viele autistische Menschen in sich tragen: Klarheit, Ausdauer, Loyalität, strukturiertes Denken, kreative Problemlösung, ein Blick für Details und eine hohe Sensibilität für moralische Werte und Gerechtigkeit.

    1. Elsabbagh, M., Divan, G., Koh, Y.-J., Kim, Y. S., Kauchali, S., Marcín, C., … & Fombonne, E. (2012). Global prevalence of autism and other pervasive developmental disorders. Autism Research, 5(3), 160–179. https://doi.org/10.1002/aur.239 ↩︎
    2. Centers for Disease Control and Prevention (CDC). (2023). Data & Statistics on Autism Spectrum Disorder. Retrieved from https://www.cdc.gov/ncbddd/autism/data.html ↩︎
    3. Tick, B., Bolton, P., Happé, F., Rutter, M., & Rijsdijk, F. (2016). Heritability of autism spectrum disorders: A meta-analysis of twin studies. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 57(5), 585–595. https://doi.org/10.1111/jcpp.12499 ↩︎
    4. Hazlett, H. C., Gu, H., Munsell, B. C., et al. (2017). Early brain development in infants at high risk for autism spectrum disorder. Nature, 542(7641), 348–351. https://doi.org/10.1038/nature21369 ↩︎
    5. Murray, D., Lesser, M., & Lawson, W. (2005). Attention, monotropism and the diagnostic criteria for autism. Autism, 9(2), 139–156. https://doi.org/10.1177/1362361305051398 ↩︎
    6. Mottron, L., Dawson, M., Soulieres, I., Hubert, B., & Burack, J. (2006). Enhanced perceptual functioning in autism: An update, and eight principles of autistic perception. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36(1), 27–43. https://doi.org/10.1007/s10803-005-0040-7 ↩︎
    7. Frith, U., & Happé, F. (1994). Autism: Beyond “theory of mind”. Cognition, 50(1-3), 115–132. https://doi.org/10.1016/0010-0277(94)90024-8 ↩︎
    8. Gernsbacher, M. A., Yergeau, M., & Pearson, A. D. (2019). Empirical failures of the claim that autistic people lack a theory of mind. Archives of Scientific Psychology, 7(1), 102–118. https://doi.org/10.1037/arc0000067 ↩︎
    9. Just, M. A., Cherkassky, V. L., Keller, T. A., & Minshew, N. J. (2004). Cortical activation and synchronization during sentence comprehension in high-functioning autism: Evidence of underconnectivity. Brain, 127(8), 1811–1821. https://doi.org/10.1093/brain/awh199 ↩︎

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