AuDHD- ein Auszug meines kunterbunten (Er-) Lebens

The Best of Both Worlds

Was jahrelang meine Hymne war (ja, ich war eine der sehr krassen Hannah-Montana-Fangirls), bekommt inzwischen eine ganz neue Bedeutung.

 

Bedürfnis nach Klarheit, aber ohne Struktur – wie sich dieser Widerspruch in meinem Hirn sogar auf meine Diagnosefindung ausgewirkt hat

Dass ich autistisch bin, weiß ich nun seit einem Dreivierteljahr. Der Erhalt meiner Diagnose stellte für mich einen absoluten Wendepunkt dar. So viel hat sich für mich dadurch erklärt und zusammengefügt. Ich bin bin seither dabei, mich immer weiter selbst in meinem „herrlich anders“-Sein anzunehmen und zu schätzen.

 

Dennoch sind einige Fragen offengeblieben:

 

Wenn mir doch Ordnung, Planung, Struktur und Organisation so wichtig sind, wieso scheitere ich dann konsequent an genau diesen Themen?

Wieso verkacke ich ständig meine zuvor akkurat und minutiös geplanten Strukturen und Systeme, verliere mich in Details und schweife ab?

Wieso belastet mich dieses konträre Verhältnis so sehr?

Wieso scheinen meine autistischen Bedürfnisse so unvereinbar mit meinem Leben zu sein?

Wieso fühle ich mich mein Leben lang innerlich getrieben, rastlos und bin ständig in Gedanken?

Wieso leide ich unter massiver Anspannung und muss mich auspowern , um einigermaßen funktionieren zu können?

 

Ganz einfach – mein Hirn ist in seiner Komplexität dann doch einfach etwas zu chaotisch und messy 😉

 

Nein, das war ein Witz. Ich habe einfach noch eine „sanfte Prise ADHS-Luft“ geschnuppert.

 

 

„Mix it all together and… well, lest einfach weiter 😉

Im Alltag sieht das dann in etwa so aus: Ich fange mal mit meiner Kalenderführung an. Und erstmal damit, dass es keine Kalender auf diesem Markt gibt, die so gestaltet sind, wie ich es gerne hätte.

 

Ich möchte alles planen und strukturieren. Ich brauche eine Liste für To-Dos im Haushalt, gegliedert in die verschiedenen Bereiche. Dazu eine Liste für Bürokratisches, beispielsweise Online-Banking, Finanzen, Versicherungen, Anträge, Berichte und all diese Themen, die grundsätzlich auf allen Ebenen überfordern. Dann brauche ich noch Einkaufslisten, Listen bezogen auf meine Arbeit- Listen, Listen, Listen.

 

Diese ganzen Dinge hätte ich nicht nur gerne exakt geplant und terminiert, sondern auch die Reihenfolge der einzelnen Schritte vorher bestimmt. Ich möchte ganz genau festgelegt haben, wann, was und auf welche Art und Weise ich zu erledigen habe. Das entspricht meinem übergeordneten Bedürfnis nach Vorhersagbarkeit, Ordnung und Struktur.

 

Planung trifft auf ihren Endgegner: die Durchführung

In der Theorie klingt das ja schon mal gut. In der Praxis sieht das leider häufig so aus: Ich plane, plane und plane, verbringe so viel Zeit mit Planung, dass ich direkt schon nicht mehr im Zeitplan bin und dadurch sofort gestresst bin. Wenn der Tagesplan dann endlich mal steht, bin ich also bereits im Zeitverzug.

 

Tätigkeiten, bei denen mich die vielen Einzelschritte überfordern und überwältigen, scheitern teilweise bereits im Planungsprozess dieser Schritte.

 

Während ich dann also bereits an Punkt 3 des Tagesplans angekommen sein sollte, habe ich meistens zehn andere Ideen und Projekte angefangen- und nicht beendet.

 

Hier ein Beispiel: ich plane, das Bad zu putzen, und fange auf einmal zu saugen, während ich einen Schrank aussortiere und dabei auf die Idee komme, diesen einmal richtig schön und neu zu strukturieren. Dann fällt mir ein, dass ich meine Textmarker gerne nach Farben sortieren möchte, während die Kühlschranktür seit zehn Minuten offen steht, weil ich den gerade am Auswischen war. Und dann stelle ich fest: Hier ist ein riesiges Chaos!!!

 

Wenn Autismus und ADHS Streit haben

Das pisst natürlich meinen Autismus enorm an. Ich bin gestresst und überfordert, stehe erstmal zehn Minuten vor dem Spiegel und drücke in meinem Gesicht rum (Selbstregulation!).

 

Danach versuche ich, mein Chaos zu bewältigen, aber spätestens um 18 Uhr ist Schluss. Da beginnt meine Abendroutine und ich möchte geduscht und im Schlafi auf der Couch sitzen, dabei in einen Bildschirm glotzen -und danach nicht mehr wissen, was ich da eigentlich geschaut habe, weil ich nicht aufpasse und in Gedanken bin. Ab 19 Uhr fange ich dann an, mein Abendessen vorzubereiten, während ich weiter offiziell eine Serie schaue. Bis ich völlig erschöpft bin und mein Medikament zum Schlafen mich dankbarerweise aus meiner inneren Unruhe, meinem ständigen Denken und Getriebensein rausholt.

 

Einflüsse und Veränderungen – wenn Kompensation an ihre Grenzen kommt

Meine Alltagsüberforderung (oder auch die allgemeine Überforderung mit dem Leben) hat drastisch zugenommen, als ich ausgezogen bin und sich die Anforderungen an mich, meinen Alltag, meine Arbeit, mein Studium und das selbstständige Leben um ein Vielfaches potenziert haben.

 

Ich habe keinen Überblick über meine Finanzen und schiebe es auf, überhaupt in meinen Online-Banking-Account zu schauen.

Rechnungen bezahle ich erst nach der x-ten Mahnung – meine Gelegenheit, dann doch mal in mein Konto zu schauen…

Ich vermeide es, meinen Briefkasten zu öffnen, und sammle ungeöffnete Briefe in einer Ikea-Tasche in meiner Abstellkammer.

 

Hier sammele ich auch alles Mögliche an impulsiven Käufen. Ich habe häufig das Gefühl, etwas ganz dringend zu benötigen. Beispielsweise hatte ich vor über zwei Jahren die Idee, ich bräuchte mal wieder ein Fahrrad. Mein altes war verrostet und kaputt, nachdem ich es jahrelang und über zu viele Winter draußen stehen gelassen habe. Ich habe mir ein gebrauchtes Rad und gleich einen Helm in zwei verschiedenen Größen bestellt. Das Fahrrad kam an und ich musste es zusammenbauen. Ich hab’s nicht hinbekommen – die Kette bewegt sich nicht, wenn man in die Pedale tritt, die Bremsen greifen nicht- und der Sattel passt nicht auf den Stab. Jetzt habe ich ein Fahrrad, das weder fahren noch bremsen kann und ohne Sattel im Keller steht. Und auch die Rücksendefrist der Fahrradhelme habe ich verpasst – das Paket liegt immer noch ungeöffnet in meinem Kofferraum und ich weiß bis heute nicht, welcher passt.

 

Häufig passiert es auch, dass ich zu viele Klamotten bestelle. Ich bin autistisch bedingt sehr wählerisch und speziell, was Kleidung betrifft. Das Material und die Passform müssen einfach sensorisch erträglich sein. Wenn ich dann mal etwas gefunden habe, das ich gerne trage und dann auch noch optisch an mir akzeptiere (mein Selbstwert ist ja nun mal auch nicht so Bombe), dann bestelle ich das gerne mehrfach. Und ziehe es dann nicht an, weil ich am Ende sowieso meine Lieblingskleidungsstücke habe, die ich ständig trage und wasche. Das ist dann auch leichter zu planen und zu organisieren mit meinem Waschrhythmus. Entweder trage ich die Klamotten, sie sind in der Waschmaschine oder im Wäschekorb – der dann quasi mein Kleiderschrank ist.

 

Aber das geht natürlich ganz schön ins Geld, vor allem, wenn man essstörungsbedingt das alles noch in verschiedenen Größen betreibt…

 

Und wohin damit? – Na, in die Abstellkammer natürlich.

 

Dort befindet sich alles, was in keines meiner bestehenden Ordnungssysteme passt. Ich bin nämlich eigentlich total überfordert damit, mehr zu besitzen, als ich händeln kann.

 

Mein Hirn: ein autistischer Schrank mit ADHS-Schubladen

Es ist nicht so, als könnte ich generell keine Ordnung halten. Im Gegenteil – wenn ein System vorhanden ist, schaffe ich das sehr gut. Es wird kritisch, wenn ich nicht von Beginn an Ordnungssysteme etabliere und, wenn immer mehr Zeug hinzukommt. Deswegen hat meine Wohnung Schränke und Ecken, die penibel und akkurat aufgeräumt und sauber sind und die Ecken, die einfach messy sind mit Schubladen, die besser geschlossen bleiben sollten.

 

Der Teufelskreis

„The Best of Both Worlds“ zu haben bedeutet für mich, sich in einem permanenten Teufelskreis und Interessenkonflikt zu befinden.

 

Beginnend mit dem starken Bedürfnis nach Routine, Ordnung und Struktur, über die mangelnde Konzentration im Durchführungsprozess, die vielen gedanklichen Wechsel hin zur Prokrastination. Dies führt zu hoher Anspannung, Selbstzweifeln und Selbstabwertung mit tendenziell dysfunktionaler Regulation. Am Ende des Tages habe ich dann häufig nichts zu Ende gebracht, war aber nonstop beschäftigt. Nicht selten führt dies zu massiver Erschöpfung und selbst erzeugter Reizüberflutung – zusätzlich zu der, die das Leben allgemein mit sich bringt.

 

 

Wenn Autismus und ADHS ein Team sind

„The Best of Both Worlds“ zu haben heißt aber auch, dass ich mich im Rahmen meiner Spezialinteressen auf Themen, die mich aktuell interessieren, übermäßig fokussieren kann und dabei sehr produktiv bin. Als ich zum Beispiel mit geistig und körperlich behinderten Kindern zusammengearbeitet habe, hatte ich einen totalen Hyperfokus auf Behinderung und Inklusion und wollte die Welt verbessern. Ich habe mich eingelesen in nonverbale Kommunikation, die Förderung von Grob- und Feinmotorik, habe hierfür meiner Klientin Material selbst gebastelt und erstellt und recherchiert, wie ich ihr motorisch vereinfachte Gebärden und körperliche Signale zur Kommunikation beibringen kann.

 

Ich kann mich stundenlang auf ein Puzzle konzentrieren oder Geschenke für Menschen herstellen, die mir am Herzen liegen (z. B. Perlenketten, Makramee-Zeug, etwas Backen, Fotobücher basteln, Briefchen schreiben etc.).

 

Ich habe vor ein paar Monaten innerhalb von drei Wochen gleich ein ganzes Buch geschrieben (und nie überarbeitet oder veröffentlicht), weil ich nonstop einfach alles runtergeschrieben habe, was mich beschäftigt und bewegt.

 

Aktuell liegt mein Hyperfokus im Aufbau dieser Seite. Ich recherchiere alles zum Thema Autismus und ADHS bei Frauen, über neuroaffirmative und inklusive Ansätze, lasse mich national und international von Aktivist:innen, Autor:innen und Influencer:innen inspirieren, sammle Ideen für Produkte, die noch erscheinen sollen, netzwerke online und informiere mich, welche Themen euch interessieren und worüber ihr euch Aufklärung, Erfahrungswerte oder Austauschfläche wünscht.

 

Ansonsten sind es wechselnde Themen, die mich in übermäßigem Maße interessieren, mich fesseln und denen ich meinen absoluten Fokus widme. Zum Beispiel Dinge, die ich in der Natur entdecke (Flechten, Pilze, Entstehungsformen von Pflanzen), Bienchen, Füchse, früher Katzen – jetzt Hunde, gesellschaftliche und politische Themen, meine Queerness, diverse Künstler:innen, True-Crime-Fälle und und und.

 

Aber, wie ich „The Best of Both Worlds“ so richtig auf meine alltäglichen Anforderungen übertragen und einen Hyperfokus auf Haushalt, Rechnungen, Briefe und Bürokratisches entwickeln kann – das hab ich einfach noch nicht gelernt und verstanden.

 

 

… Und weiter?

„Chillin’ out, take it slow – Then you rock out the show.“

 

Reizarme Pausen und das Schaffen von Low-Stimulation-Zonen sind für mich enorm wichtig – das habe ich gelernt. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, Pausen zu machen, Timer zu stellen und meine Reizmenge zu dosieren.

 

Ich muss, soll und darf mir diese Pausen erlauben- meine Wohnung abdunkeln, meinen Sternenhimmel-Projektor anmachen, meine Kopfhörer anziehen, mich zudecken und mir mein gewichtetes Kissen auf die Brust legen.

 

Meine Tagespläne versuche ich, nicht zu rigide zu strukturieren, sondern sie zur Orientierung zu nutzen und, um Zeiträume für Tätigkeiten und Regeneration zu bestimmen.

 

Denn: „The Best of Both Worlds“ kann ich erst haben, wenn ich alle meine Bedürfnisse ernst nehme.

 

Dann werde ich vielleicht doch noch ein Rockstar 😉

 

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