Was ist ADHS?
Eine aktuelle Übersicht mit Diagnosekriterien, Prävalenzdaten und Ursachen
Was genau ist ADHS?
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Betroffene Personen zeigen anhaltende Schwierigkeiten in den Bereichen:
- Aufmerksamkeit und Konzentration
- Impulskontrolle
- (motorische und/oder innere) Unruhe
Diese Symptome treten situationsübergreifend und dauerhaft auf und verursachen in Schule, Beruf oder sozialen Beziehungen spürbare Beeinträchtigungen. ADHS beginnt in der Kindheit, bleibt aber oft bis ins Erwachsenenalter bestehen.
ADHS ist keine Disziplin- oder Erziehungsfrage, sondern Folge einer abweichenden Reizverarbeitung im Gehirn, insbesondere im Dopamin- und Noradrenalin-Haushalt sowie in der Regulation exekutiver Funktionen.
Ein kurzer Blick zurück: Die Geschichte der ADHS-Diagnose
Diagnosekriterien im Vergleich: ICD-10, ICD-11 und DSM-5-TR
ICD-10 (in Deutschland weiterhin für Diagnostik und Abrechnung verbindlich)
ADHS wird als „Hyperkinetische Störung“ (F90) klassifiziert. Es gibt drei Hauptvarianten:
- die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0),
- die hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1),
- und sonstige/nicht näher bezeichnete Formen (F90.8/.9)
Kernkriterien:
- Aufmerksamkeitsstörung
- Überaktivität
- Impulsivität
- Beginn vor dem 7. Lebensjahr
- Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen
ICD-11 (international gültig, in Deutschland noch nicht flächendeckend angewandt)
In der ICD-11 wird ADHS unter dem Code 6A05 Attention Deficit Hyperactivity Disorder geführt. Die früheren Unterteilungen in Kombination mit Störungen des Sozialverhaltens (z. B. F90.1) entfallen. Stattdessen erfolgt eine klare Trennung: ADHS wird als eigenständige Diagnose geführt, Sozialverhaltensstörungen separat.
Kernmerkmale:
- Vorwiegend unaufmerksamer Typ
- Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ
- Kombinierter Typ
- Symptome müssen vor dem 12. Lebensjahr begonnen haben
- Funktionale Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen erforderlich
Außerdem wird der Schweregrad anhand des Unterstützungsbedarfs beschrieben, ähnlich wie in der Autismusdiagnostik. Die ICD-11 ermöglicht eine differenziertere Beschreibung, ohne den problematischen Fokus auf „sozial abweichendes Verhalten“ aus der ICD-10 beizubehalten.
Obwohl die ICD-11 international seit 2022 in Kraft ist, wird in Deutschland weiterhin die ICD-10-GM verwendet. Die Umstellung auf ICD-11 ist in Vorbereitung, aber noch nicht in der klinischen Praxis angekommen.
DSM-5-TR (US-amerikanisches Diagnostiksystem)
Sehr ähnlich zur ICD-11, allerdings mit mehr operationalisierten Kriterien und einem stärker symptomorientierten Diagnoseansatz. Auch hier:
drei Subtypen
Beginn vor dem 12. Lebensjahr
Symptome müssen in mindestens zwei Lebensbereichen auftreten
Berücksichtigung des Schweregrads
Wie häufig ist ADHS?
Ursachen und Risikofaktoren
- Genetik: Zwillingsstudien zeigen eine Heritabilität von etwa 70–80 %4
- Neurobiologie: veränderte Dopamin- und Noradrenalinverarbeitung, besonders im frontalen Kortex, Striatum und Kleinhirn5
- Geburt und Schwangerschaft: erhöhtes Risiko bei Frühgeburt, niedrigem Geburtsgewicht, pränatalem Stress oder Substanzkonsum
- Psychosoziale Faktoren: beeinflussen Verlauf und Ausdruck, sind aber keine Ursache
ADHS im Alltag: Herausforderungen und Stärken
Typische Alltagsphänomene bei ADHS:
- Vergesslichkeit, Zeitblindheit, Desorganisation
- Reizoffenheit, Ablenkbarkeit, Gedankensprünge
- Impulsives Verhalten, emotionale Reaktivität
- Schwierigkeiten mit langfristiger Planung, aber außergewöhnliche Kreativität
- „Hyperfokus“ bei starker intrinsischer Motivation
Viele berichten von einem ständigen inneren Spannungszustand zwischen Reizsuche und Reizüberflutung, zwischen Tatendrang und Blockade.
ADHS ist keine Willensschwäche
ADHS ist kein Mangel an Disziplin, Intelligenz oder Motivation. Es ist eine andere Art, Informationen zu verarbeiten, Aufmerksamkeit zu steuern und mit der Umwelt zu interagieren. Menschen mit ADHS brauchen keine Strenge, sondern transparente Strukturen, ein passendes Reizniveau, eine realistische Selbstorganisation, und vor allem: Verständnis.
Neurodiversitätsorientierte Sichtweisen betonen, dass ADHS nicht „wegtherapiert“ werden soll, sondern die Lebensbedingungen so angepasst werden müssen, dass Betroffene ihre Stärken nutzen und mit ihren Schwierigkeiten umgehen können, ohne sich ständig selbst zu unter- oder zu überfordern.
ADHS ist weit mehr als ein Aufmerksamkeitsproblem. Es handelt sich um eine tiefgreifende neurobiologische Besonderheit mit ganz eigenen Mustern der Reizverarbeitung, Motivation und Selbststeuerung. Wer ADHS nur als Störung der Konzentration versteht, greift zu kurz und übersieht, wie viel Potenzial, Kreativität und Energie in einem adäquat verstandenen ADHS-Profil stecken kann. Entscheidend ist nicht, ob sich Betroffene „anpassen“, sondern ob ihr Umfeld bereit ist, neurodiverses Funktionieren mitzudenken.
- Crichton, A. (1798). An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement. London: T. Cadell Jr. and W. Davies. (zitiert in: Barkley, R. A. (2006). Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment. New York: Guilford Press.)↩︎
- Polanczyk, G., de Lima, M. S., Horta, B. L., Biederman, J., & Rohde, L. A. (2007). The worldwide prevalence of ADHD: A systematic review and metaregression analysis. American Journal of Psychiatry, 164(6), 942–948. https://doi.org/10.1176/ajp.2007.164.6.942↩︎
- Robert Koch-Institut. (2018). Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse der KiGGS-Studie Welle 2. https://www.rki.de/kiggs-welle2↩︎
- Faraone, S. V., Perlis, R. H., Doyle, A. E., Smoller, J. W., Goralnick, J. J., Holmgren, M. A., & Sklar, P. (2005). Molecular genetics of attention-deficit/hyperactivity disorder. Biological Psychiatry, 57(11), 1313–1323. https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2004.11.024↩︎
- Arnsten, A. F. T. (2009). The emerging neurobiology of attention deficit hyperactivity disorder: The key role of the prefrontal association cortex. Journal of Pediatrics, 154(5), I–S43–S50. https://doi.org/10.1016/j.jpeds.2009.01.018↩︎