Ein Erfahrungsbericht über doppelte Unsichtbarkeit, Invalidierung und Bagatellisierung
Zwischen Klischees und Realität
Über Autismus und ADHS haben viele Menschen in meinem direkten Umfeld, aber auch Ärzt:innen und Diagnostiker:Innen veraltete Klischees im Kopf.
Ich formuliere hier einmal bewusst provokant:
Autist:innen sind in der Regel männlich und werden als kleine Jungs diagnostiziert. Sie fallen im Kindergarten auf- etwa dadurch, dass sie völlig unfähig sind, sozial zu interagieren und allein mit ihrem Zauberwürfel in der Ecke sitzen oder Würmer zerquetschen. Autistische Mädchen?- Gibt´s nicht.
Autismus fällt immer und ausschließlich im Kindesalter auf- alle Besonderheiten, die bis ins Erwachsenenalter unentdeckt bleiben, sind Persönlichkeitsstörungen. Bei Frauen sowieso.
Man sieht Autist:innen an, dass sie autistisch sind- sie haben keinerlei Empathie, sind gefühlskalt, haben immer eine Inselbegabung und ein Spezialinteresse.
ADHS?- Haben auch nur Jungs. Sie fallen auf, weil sie hyperaktiv und sozial auffällig, oft aggressiv und impulsiv sind. Sie können nicht stillsitzen, sind der „Zappelphilipp“ oder der „Klassenclown“. Konzentrieren können sie sich grundsätzlich nicht und die Schwierigkeiten im Sozialverhalten sowie in schulischen Aspekten sind auf schlechte Erziehung, mangelnde Motivation oder Disziplin zurückzuführen. Aber das verwächst sich alles wieder.
Jenseits der Klischees
Ich bin auch autistisch. Und habe ADHS. Diesen Klischees entspreche ich allerdings nicht.
Was bedeutet das? Sind meine Diagnosen falsch?
Aber wieso bekomme ich mein Leben dann trotzdem nicht in den Griff?
Der tägliche Widerspruch- wie gegensätzliche Bedürfnisse mein Leben prägen
Ich will strukturiert und organisiert sein- aber scheitere in der Umsetzung.
Ich bin müde, reizüberflutet und überfordert- und lade mir mehr Arbeit auf.
Ich sehne mich nach Bindung und Wärme- und bin völlig überfordert mit sozialen Kontakten und pflege sie nicht gut.
Ich brauche Routinen, um ich sicher und gut zu fühlen- und dennoch habe ich nicht für alles Routinen und feste Abläufe, vergesse hier die Zeit, verliere mich in Details, denke sprunghaft und alles ist wirr.
Das widerspricht sich doch alles total!
Ich bin zu empathisch und sozial angepasst für die eine Kategorie- und gleichzeitig zu strukturiert, rigide und nach außen zu ruhig für die Andere.
Es muss wohl an mir liegen.
Zu empathisch und sozial angepasst, um autistisch zu sein?
Ich bin einfühlsam, hilfsbereit und vor allem sehr bemüht darum, von meinem Umfeld akzeptiert zu werden. Zwar habe ich wenige Freundschaften und Gruppensituationen überfordern mich- doch die wenigen Freundschaften, die ich habe, sind sehr intensiv und langjährig. Ich habe ganz feine Antennen für meine Umwelt und meine Umgebung. Das geht zwar oft mit einer belastenden Reizoffenheit einher, führt aber auch dazu, dass ich sehr empathisch bin.
Nur weiß ich oft nicht, wie ich mit den Gedanken und Gefühlen meines Gegenübers (oder gar meinen eigenen) angemessen umgehen soll, weil ich das nicht so intuitiv in mir drin habe. Ich brauche dafür von meinem Gegenüber eine sehr klare Kommunikation über dessen Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse.
Als ich vier Jahre lang ein geistig und körperlich behindertes Kind betreut habe, konnte ich oft spüren, wenn es ihr nicht gut ging. Sie kann sich nicht sprachlich äußern und mitteilen und ist deswegen sehr klar in ihrer Kommunikation über Mimik und Laute. Es ist mir daher leichter gefallen, zu spüren, was sie von mir braucht, als bei meinem neurotypischen Umfeld. Diese Arbeit habe ich sehr geliebt. Meine Hyperempathie habe ich als eine Stärke von mir gesehen- wobei es mich im Alltag häufig überwältigt, so intensiv zu spüren. Und dabei so wenig zu verstehen.
Die Gesellschaft erwartet von uns Frauen aber auch, „social butterflies“ zu sein und lehrt uns sehr früh, was sozial angemessen oder akzeptabel sein soll.
Wir lernen, zu maskieren und unser Leid zu internalisieren. Häufig entwickeln wir psychische Folgeerscheinungen, die es zusätzlich erschweren können, die autistischen Merkmale dahinter als Solche zu identifizieren.
Ich habe keine Inselbegabung und manchmal glaube ich auch eher, das Intelligenzniveau einer Schmeißfliege zu haben, als ein Genie zu sein.
Ich interessiere mich nicht für Technik. Die soll einfach funktionieren, sonst werde ich sauer. Meine Spezialinteressen liegen in gesellschaftlich akzeptierten Bereichen: Musik, Tiere, Mensch und Natur. Besonders die Psychologie des Menschen und gesellschaftliche Themen faszinieren mich. Ich habe hohe Moral- und Wertevorstellungen und gehe darin auf, mich aktiv für marginalisierte Gruppen einzusetzen. Ich crushe seit meinem Siebten Lebensjahr auf Miley Cyrus und diese Obsession hat nie aufgehört oder in ihrer Intensität nachgelassen. Es gibt aber auch wechselnde Themen und Phasen, die nach einer Zeit wieder aufhören.
Ich weiß zwar nicht, wie eine autistische Person auszusehen hat, mir wurde aber mal gesagt, dass ich „ja gar nicht autistisch“ aussehen würde…
Zu strukturiert, rigide und „ruhig“, um ADHS zu haben?- Innere Unruhe und das Missverständnis der Hyperaktivität
Ich war kein impulsives, lautes oder hyperaktives Kind. Ich war ruhig, brav, angepasst- etwas verpeilt, tollpatschig und verträumt. Meine schulischen Leistungen haben nicht unter meiner leichten Ablenkbarkeit gelitten- meine Hausaufgaben habe ich einfach zu Hause in Ruhe gemacht.
Ich konnte mich benehmen und stillsitzen. Auch, wenn ich lieber am Toben, Spielen und die Natur erforschen war.
Meine Unruhe war innerlich und ich habe sie anders gezeigt, mehr in Form von Stimming-Verhalten, als von außen erkennbares „Zappeln“.
Und doch hatte ich Schwierigkeiten: Ich war reizoffen, hatte ständig Bauchweh, ließ mich leicht ablenken, wenn ich nicht in meiner reizarmen Umgebung zu Hause war.
Mit der Ordnung hatte ich es absolut nicht: mein Kinderzimmer war messy. Immer, wenn ich damit begonnen habe, etwas aufzuräumen, hatte ich eine neue Idee, bin zwischen den Aufgaben hin und her gesprungen und hatte am Ende noch mehr Chaos.
Chaos, in dem ich mich unwohl gefühlt habe. Aufräumen, das zu anstrengend und mit zu vielen Zwischenschritten war. Gedanken, die ständig da und sprunghaft sind. Innere Anspannung und Rastlosigkeit.
Schwierigkeiten und Hürden, die sich nicht verwachsen haben.
Mir fehlt in vielen Dingen der Durchblick und die Übersicht. Mein Hirn schaltet sich wie automatisch ab, wenn ich einen Handlungsablauf nicht genau vorhersehen und planen kann. Es wird mir zu komplex. Ich kapier´s einfach nicht und denke: Ich kann ja nur komplett verblödet sein!
Trotzdem sucht mein Hirn nach Input und Reizen- ganz egal, wie reizüberflutet ich ohnehin schon bin. Ich bin ständig am Multitasking betreiben ohne jegliche Kompetenz darin.
Ich verkacke es. Haferflocken kochen über, Essen brennt an oder schmort einfach weg, bis der Rauchmelder mich an mein Tun erinnert. Töpfe, Pfannen, Herdplatten und Öfen- auch da hab ich schon einiges hoffnungslos ruiniert.
Kompetenzen habe ich eher im chronischen Aufschieben, emotionaler Dysregulation, Selbstzweifel und Selbstabwertung.
Weil ich anders bin. Manchmal unfähig zu sein scheine. Nicht genüge. Nichts leiste. Und irgendwie chronisch mit allem überfordert bin.
Der innere Konflikt
Diese Koexistenz von widersprüchlichen Bedürfnissen und Impulsen geht mir nicht nur ziemlich auf den Keks- Sie zeigen auch, wie problematisch es ist, Autismus und ADHS als voneinander getrennte und sich gegenseitig ausschließende Diagnosen zu betrachten.
Warum AuDHD als eigenständiger Begriff so wichtig ist- Identität, Selbstverständnis und der Weg zu mehr Akzeptanz
Für meine Identitätsfindung und meinen Selbstwert ist es nicht entscheidend, mich einer Kategorie zuzuordnen.
Entscheidend ist, dass ich mich selbst verstehe. Und mich so annehmen kann, wie ich bin- in meiner Individualität, meinem Leben und Sein.
Ich finde es daher unglaublich wichtig, AuDHD als eigenständigen Begriff anzuerkennen und zu nutzen.
AuDHD beschreibt eine eigene Variante von Neurodivergenz- mit einer ganz eigenen Art die Welt zu erleben und zu erfahren. Genauso individuell sind auch die Bedürfnisse, Stärken und Herausforderungen, die sich daraus ergeben.
Diese kann ich nur kennen, verstehen, akzeptieren und ausbauen, wenn ich aufhöre, mich dafür abzustrafen, „zwischen den Kategorien“ und deshalb weniger Anerkennung, Hilfe und Unterstützung zu verdienen.
Deshalb braucht es dringend mehr geschulte Fachkräfte, die verstehen, dass autistische Merkmale und die der ADHS einander nicht ausschließen. Sie können sich gegenseitig neutralisieren- oder auch verstärken. Abhängig vom Umfeld und dem eigenen Umgang kann AuDHD zu mehr oder weniger Einschränkungen führen.
Die doppelte Unsichtbarkeit
Betroffene wirken häufig „zu normal“ und maskieren zu gut. Sie sind für beide Kategorien unsichtbar. So auch ihr Leid.
Spätestens aber, wenn sich die Anforderungen im Leben mit dem Erwachsenwerden, Ausziehen und vielen radikalen Veränderungen summieren, eskaliert es bei vielen. Das Leid kann nicht mehr kompensiert werden.
Bindungs- und Verlustängste, Angst vor Ablehnung, Reizüberflutung, Meltdowns, Panikattacken, bis hin zum Burnout- all das sind Themen, mit denen wir (auch ich) häufig zu kämpfen haben. Trotzdem werden sie von Fachkräften oft nicht als klassisch für Autismus oder ADHS eingeordnet.
Und auch, wenn jemand parallel auf einmal raucht wie ein Schlot, literweise Kaffee konsumiert, Selbstmedikation betreibt und dabei Substanzen missbraucht, sich selbst verletzt und offensichtlich keinen gesunden Umgang mit emotionaler Regulation hat- auch dann denkt kaum jemand an eine Neurodivergenz.
Die Auswirkungen chronischen Invalidierens und Bagatellisierens
Auch in meinem Umfeld gibt es viele Vorurteile- besonders über ADHS. Ich habe mich deshalb bewusst dazu entschieden, meine Diagnosen nicht mit jedem zu teilen.
Dass ich autistisch bin, wissen meine Eltern, mein Bruder, meine Therapeutin und die Menschen aus meinem letzten Klinikaufenthalt.
Ich hatte nie vor, meine ADHS-Diagnose mit meiner Familie zu teilen. Ich hatte den Eindruck dass die Klischees hierüber noch abwertender und veraltet sind, als über Autismus.
Ich wusste, dass ich die Diskussionen darüber emotional nicht tragen kann. Ich muss mich erklären und Dinge teilen, die ich nicht teilen möchte. Weil ich trotzdem dieses tiefe Bedürfnis nach Bindung, Akzeptanz und Verständnis in mir trage.
Wir führen dabei keine ruhigen und sachlichen Gespräche. Es eskaliert sofort.
„Weißt du eigentlich, was das bedeutet, ADHS zu haben?“
„So bist du nicht! So warst du auch nie!“
„Bei dir war immer alles normal! Da wäre doch mal irgendein Lehrer auf uns zugekommen!“
„Dass du so chaotisch und vergesslich bist, liegt an deinem Eisenmangel und an deinem schlechten Hormonhaushalt- hat daran mal irgendjemand gedacht?“
„Das liegt halt auch einfach an der Essstörung!“
„Wer drückt dir eigentlich ständig neue Stempel und Diagnosen auf?“
„Du entfernst dich immer weiter von der Mitte der Gesellschaft!“
Das alles ist nicht nur invalidierend, bagatellisierend, grenzüberschreitend und respektlos- es destabilisiert mich zudem auf allen Ebenen.
Diesen Erfahrungsbericht so offen, transparent und ehrlich zu verfassen, fiel mir deshalb nicht leicht.
Solche Situationen und dieses chronische Bagatellisieren werfen mich jedes Mal zurück. Sie verunsichern mich und lassen mich an meiner eigenen Wahrnehmung und meinem Erleben zweifeln.
Der doppelte Kampf
Zwar fühlt es sich so an, als sei der Kampf um Verständnis, Einsicht, Anerkennung und Wertschätzung meines Umfelds entscheidend für mein weiteres Leben.
Aber: ich kann diesen Kampf nicht unter diesen Voraussetzungen gewinnen.
Gewinnen kann ich nur, wenn ich mir immer wieder bewusst mache:
Meine Wahrnehmung zählt.
Meine Perspektive zählt.
Mein Erleben zählt.
Meine Erfahrung zählt.
Niemand hat das Recht, mir das abzusprechen oder infrage zu stellen.
Das Gefühl, „zu viel“ und gleichzeitig „zu wenig“ zu sein, begleitet mich nun schon eine Weile.
Eine mir sehr lieb gewonnene Mitpatientin meines letzten Klinikaufenthalts hat es dann auf den Punkt gebracht:
„Du bist nicht zu viel. Die Welt ist zu wenig.“
Ich bin okay.