ADHS

Was ist ADHS?

Eine aktuelle Übersicht mit Diagnosekriterien, Prävalenzdaten und Ursachen

ADHS: vier Buchstaben, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft für Zappeligkeit, Unaufmerksamkeit und schlechte Erziehung stehen. Doch dieses Bild ist veraltet. Heute wissen wir: ADHS ist keine Verhaltensstörung und auch kein Ergebnis allzu nachlässiger Eltern, sondern eine entwicklungsbedingte neurobiologische Besonderheit, die sich bei Kindern und Erwachsenen sehr unterschiedlich zeigen kann und weit mehr umfasst als „nicht stillsitzen können“.

Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Betroffene Personen zeigen anhaltende Schwierigkeiten in den Bereichen:

  • Aufmerksamkeit und Konzentration
  • Impulskontrolle
  • (motorische und/oder innere) Unruhe

Symptome dieser drei Kategorien treten situationsübergreifend und dauerhaft auf und verursachen in Schule, Beruf oder sozialen Beziehungen spürbare Beeinträchtigungen. Das Symptombild beginnt in der Kindheit, verändert sich über die Lebensspanne in ihrer Ausprägung und Qualität und bleibt oft bis ins Erwachsenenalter bestehen.

Das Phänomen ist keine Disziplin- oder Erziehungsfrage, sondern Folge einer abweichenden Reizverarbeitung im Gehirn, insbesondere im Dopamin- und Noradrenalin-Haushalt und geht mit Schwierigkeiten in der Regulation exekutiver Funktionen einher.

Zwei erwachsene Hände halten ein weißes Papiersymbol in Form eines menschlichen Kopfes mit der Aufschrift ‚ADHS‘ – symbolische Darstellung neurobiologischer Besonderheiten bei Erwachsenen.

Ein kurzer Blick zurück: Die Geschichte der ADHS-Diagnose

Die Beschreibung von Verhaltensauffälligkeiten, die wir heute mit ADHS in Verbindung bringen, reicht über 200 Jahre zurück. Bereits 1798 beschrieb der schottische Arzt Alexander Crichton eine „geistige Ruhelosigkeit“ bei Kindern, die deutlich an moderne ADHS-Symptome erinnert1.

 

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Verhalten meist als „minimal brain dysfunction“ (MBD) bezeichnet – eine wenig konkrete Diagnose, die neurologische Ursachen vermutete, aber keine klaren Kriterien hatte. Ab den 1960er-Jahren tauchte in den USA erstmals der Begriff Hyperkinetisches Syndrom auf, mit Fokus auf der motorischen Unruhe.

 

Mit dem DSM-III (1980) wurde die Diagnose als ADD (Attention Deficit Disorder) formell etabliert, erstmals mit und ohne Hyperaktivität. Ab dem DSM-III-R (1987) setzte sich der heute geläufige Begriff ADHD (bzw. ADHS im Deutschen) durch. Seither haben sich die Diagnosekriterien mehrfach weiterentwickelt – u. a. durch die Anerkennung unterschiedlicher Subtypen, die Erweiterung des Alterskriteriums und die Berücksichtigung von Erwachsenen.

 

Diese Entwicklung spiegelt erfreulicherweise den Wandel von einem defizitorientierten Störungsmodell hin zu einem differenzierteren Verständnis neurobiologischer Vielfalt wider, auch wenn alte Vorurteile in der Gesellschaft bis heute nachwirken.

Diagnosekriterien im Vergleich: ICD-10, ICD-11 und DSM-5-TR

ADHS wird als „Hyperkinetische Störung“ (F90) klassifiziert. Es gibt drei Hauptvarianten:

  • die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0),
  • die hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1),
  • und sonstige/nicht näher bezeichnete Formen (F90.8/.9)

Kernkriterien:

  • Aufmerksamkeitsstörung
  • Überaktivität
  • Impulsivität
  • Beginn vor dem 7. Lebensjahr
  • Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen

In der ICD-11 wird ADHS unter dem Code 6A05 Attention Deficit Hyperactivity Disorder geführt. Die früheren Unterteilungen in Kombination mit Störungen des Sozialverhaltens (z. B. F90.1) entfallen. Stattdessen erfolgt eine klare Trennung: ADHS wird als eigenständige Diagnose geführt, Sozialverhaltensstörungen separiert.

 

Kernmerkmale:

  • Vorwiegend unaufmerksamer Typ
  • Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ
  • Kombinierter Typ
  • Symptome müssen vor dem 12. Lebensjahr begonnen haben
  • Funktionale Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen erforderlich

Außerdem wird der Schweregrad anhand des Unterstützungsbedarfs beschrieben, ähnlich wie in der Autismusdiagnostik. Die ICD-11 ermöglicht eine differenziertere Beschreibung, ohne den problematischen Fokus auf „sozial abweichendes Verhalten“ aus der ICD-10 beizubehalten.

 

Obwohl die ICD-11 international seit 2022 in Kraft ist, wird in Deutschland weiterhin die ICD-10-GM verwendet. Die Umstellung auf ICD-11 ist in Vorbereitung, aber noch nicht in der klinischen Praxis angekommen.

DSM-5-TR (US-amerikanisches Diagnostiksystem)

Sehr ähnlich zur ICD-11, allerdings mit mehr operationalisierten Kriterien und einem stärker symptomorientierten Diagnoseansatz. Auch hier:

  • drei Subtypen

  • Beginn vor dem 12. Lebensjahr

  • Symptome müssen in mindestens zwei Lebensbereichen auftreten

  • Berücksichtigung des Schweregrads

Wie häufig ist die Entwicklungsstörung?

Die Häufigkeit der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung wurde lange unterschätzt. Aktuelle Studien zeigen:

Weltweit sind ca. 5–7 % der Kinder und Jugendlichen und ca. 2–5 % der Erwachsenen betroffen2, wobei viele nicht diagnostiziert sind. In Deutschland (Robert Koch-Institut) sind 4,4 % der 3- bis 17-Jährigen betroffen3.

Frauen werden seltener und meist später diagnostiziert oder gar fehldiagnostiziert, weil bei ihnen häufig weniger die Hyperaktivität und dafür mehr die Symptome Unaufmerksamkeit und/oder emotionale Dysregulation im Vordergrund stehen. Einen ausführlichen Bericht speziell zu ADHS bei Frauen haben wir hier verfasst.

Ursachen und Risikofaktoren

ADHS entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen, neurobiologischen und umweltbezogenen Faktoren.

Gesicherte Einflussfaktoren:

  • Genetik: Zwillingsstudien zeigen eine Heritabilität von etwa 70–80 %4
  • Neurobiologie: veränderte Dopamin- und Noradrenalinverarbeitung, besonders im frontalen Kortex, Striatum und Kleinhirn5
  • Geburt und Schwangerschaft: erhöhtes Risiko bei Frühgeburt, niedrigem Geburtsgewicht, pränatalem Stress oder Substanzkonsum
  • Psychosoziale Faktoren: beeinflussen Verlauf und Ausdruck, sind aber keine Ursache

Das Gehirn von Menschen mit ADHS unterscheidet sich in mehreren Aspekten von dem neurotypisch entwickelter Personen, sowohl in der Struktur als auch in der Art, wie bestimmte Regionen miteinander kommunizieren. Besonders auffällig sind Unterschiede im sogenannten präfrontalen Kortex. Dieser Bereich des Gehirns ist für Funktionen wie Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und das Planen von Handlungen zuständig und zeigt bei vielen Menschen mit ADHS ein etwas geringeres Volumen.6

 

Auch die chemische Signalübertragung im Gehirn ist verändert. Zwei Botenstoffe – Dopamin und Noradrenalin – spielen eine Schlüsselrolle bei der Steuerung von Aufmerksamkeit und Motivation. Bei ADHS ist deren Verfügbarkeit in bestimmten Hirnregionen reduziert. Ein Grund dafür könnte sein, dass der Dopamin-Transporter, der für den Abbau von Dopamin verantwortlich ist, aktiver ist oder in größerer Zahl vorliegt.6

 

Das führt dazu, dass Dopamin schneller aus dem synaptischen Spalt entfernt wird, also weniger lange wirksam ist. Die Kommunikation zwischen den Nervenzellen wird dadurch gestört. Diese Veränderungen tragen vermutlich wesentlich dazu bei, dass Menschen mit ADHS sich schwer tun, ihre Aufmerksamkeit zu regulieren, Impulse zu kontrollieren oder längere Zeit bei einer Aufgabe zu bleiben.6

ADHS im Alltag: Herausforderungen und Stärken

Typische häufige Alltagsphänomene sind:

  • Vergesslichkeit, Zeitblindheit, Desorganisation
  • Reizoffenheit, Ablenkbarkeit, Gedankensprünge
  • Impulsives Verhalten, emotionale Reaktivität
  • Schwierigkeiten mit langfristiger Planung, aber außergewöhnliche Kreativität
  • Hyperfokus“ bei starker intrinsischer Motivation

Viele berichten von einem ständigen inneren Spannungszustand zwischen Reizsuche und Reizüberflutung, zwischen Tatendrang und Blockade.

ADHS ist keine Willensschwäche

Menschen mit diesem Neurotyp haben keinen Mangel an Disziplin, Intelligenz oder Motivation. Ihr Gehirn hat eine andere Art, Informationen zu verarbeiten, Aufmerksamkeit zu steuern und mit der Umwelt zu interagieren. Betroffene brauchen keine Strenge, sondern transparente Strukturen, ein passendes Reizniveau, eine realistische Selbstorganisation, und vor allem: Verständnis.

 

Neurodiversitätsorientierte Ansätze gehen davon aus, dass ADHS nicht „wegtherapiert“ werden soll, sondern die Lebensbedingungen so angepasst werden müssen, dass Betroffene ihre Stärken nutzen und mit ihren Schwierigkeiten umgehen können, ohne sich ständig selbst zu unter- oder zu überfordern.

 

ADHS ist weit mehr als ein Aufmerksamkeitsproblem. Es handelt sich um eine tiefgreifende neurobiologische Besonderheit mit ganz eigenen Mustern der Reizverarbeitung, Motivation und Selbststeuerung. Wer es nur als Störung der Konzentration versteht, greift zu kurz und übersieht, wie viel Potenzial, Kreativität und Energie in einem adäquat verstandenen ADHS-Profil stecken kann. Entscheidend ist nicht, ob sich Betroffene „anpassen“, sondern ob ihr Umfeld bereit ist, neurodiverses Funktionieren mitzudenken.

  1. Crichton, A. (1798). An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement. London: T. Cadell Jr. and W. Davies.
    (zitiert in: Barkley, R. A. (2006). Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment. New York: Guilford Press.) ↩︎
  2. Polanczyk, G., de Lima, M. S., Horta, B. L., Biederman, J., & Rohde, L. A. (2007). The worldwide prevalence of ADHD: A systematic review and metaregression analysis. American Journal of Psychiatry, 164(6), 942–948. https://doi.org/10.1176/ajp.2007.164.6.942 ↩︎
  3. Robert Koch-Institut. (2018). Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse der KiGGS-Studie Welle 2. https://www.rki.de/kiggs-welle2 ↩︎
  4. Faraone, S. V., Perlis, R. H., Doyle, A. E., Smoller, J. W., Goralnick, J. J., Holmgren, M. A., & Sklar, P. (2005). Molecular genetics of attention-deficit/hyperactivity disorder. Biological Psychiatry, 57(11), 1313–1323. https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2004.11.024 ↩︎
  5. Arnsten, A. F. T. (2009). The emerging neurobiology of attention deficit hyperactivity disorder: The key role of the prefrontal association cortex. Journal of Pediatrics, 154(5), I–S43–S50. https://doi.org/10.1016/j.jpeds.2009.01.018 ↩︎
  6. Faraone, S. V., Asherson, P., Banaschewski, T., Biederman, J., Buitelaar, J. K., Ramos-Quiroga, J. A., Rohde, L. A., Sonuga-Barke, E. J., Tannock, R., & Franke, B. (2015). Attention-deficit/hyperactivity disorder. Nature Reviews Disease Primers, 1, 15020. https://doi.org/10.1038/nrdp.2015.20 ↩︎

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