ADHS bei Frauen

ADHS bei Frauen

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gilt noch immer vielfach als „Jungenkrankheit“ – laut, störend, impulsiv. In der klinischen Realität zeigt sich jedoch ein differenzierteres Bild: Insbesondere bei Mädchen und Frauen bleibt ADHS häufig unerkannt oder wird fehldiagnostiziert. Das liegt nicht nur an diagnostischen Kriterien, die männlich geprägte Symptome stärker gewichten, sondern auch an geschlechtsspezifischen Bewältigungsstrategien, die das Störungsbild maskieren. Frauen mit ADHS erhalten deshalb oft erst im Erwachsenenalter eine Diagnose – wenn überhaupt.

Häufigkeit und Diagnosediskrepanz

Laut epidemiologischen Studien liegt die ADHS-Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen bei etwa 5–7 % weltweit1. In der Kindheit liegt das Geschlechterverhältnis bei etwa 3:1 zugunsten der Jungen. Bei Erwachsenen nähert sich das Verhältnis deutlich an (etwa 1,6:1), was darauf hindeutet, dass viele Mädchen im Jugendalter nicht diagnostiziert werden. Mädchen zeigen häufiger den unaufmerksamen Subtyp ( ICD-10: F98.80, Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität) und weniger den hyperaktiven oder kombinierten Typ, der leichter auffällt.

Symptome bei Mädchen und Frauen

Typisch für ADHS bei Frauen ist ein innerlich getriebenes, aber nach außen oft angepasstes Erscheinungsbild. Zu den häufigen Symptomen zählen:

  • Konzentrationsprobleme, Ablenkbarkeit
  • Chronisches Aufschieben (Prokrastination)
  • Emotionale Dysregulation (z. B. Reizbarkeit, plötzliche Gefühlsausbrüche)
  • Selbstzweifel, Perfektionismus, übermäßige Selbstkritik
  • Überforderung durch Alltagsanforderungen trotz hoher Intelligenz
  • Erschöpfung und Burnout durch kompensatorisches Verhalten

Hyperaktive Symptome äußern sich oft subtiler: als innerliche Unruhe, ständiges Denken, Redefluss oder Bewegungsdrang (z. B. Wippen mit dem Fuß).

Diagnostische Probleme und Fehldiagnosen

Frauen mit ADHS erhalten häufig zunächst andere Diagnosen: Depressionen, Angststörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder bipolare Störung. Dabei sind komorbide Störungen zwar häufig (insbesondere Depressionen (bis zu 60 %), Angsterkrankungen (etwa 50 %) und Essstörungen (v. a. Bulimie)), jedoch oft sekundär zu betrachten2. Die eigentliche ADHS bleibt unerkannt, weil:

  • Frauen durch soziale Anpassung Symptome kompensieren
  • Lehrkräfte und Eltern ADHS bei Mädchen nicht vermuten
  • Diagnostische Leitlinien zu stark auf männliche Symptome fokussieren
  • Frauen ihre Symptome internalisieren (z. B. Schuldgefühle statt Aggression)

Lebenslauf und psychosoziale Folgen

Unbehandelte ADHS hat für viele Frauen gravierende Folgen3. Trotz oftmals hoher Intelligenz scheitern sie im Bildungssystem nicht selten an Anforderungen, die ein hohes Maß an Struktur, Organisation und Aufmerksamkeitssteuerung verlangen. Dabei zeigen sie häufig von Kindheit an ein Gefühl des Andersseins, begleitet von chronischem Selbstzweifel und dem Eindruck, nicht zu genügen.

 

Im Verlauf des Lebens summieren sich die Belastungen: Studien belegen ein erhöhtes Risiko für Schulabbrüche und unterdurchschnittliche Bildungsabschlüsse, was sich später in instabilen Erwerbsbiografien niederschlagen kann. Auch im sozialen Bereich ergeben sich Konsequenzen. Beziehungen sind häufig belastet durch emotionale Impulsivität, Vergesslichkeit oder Überforderung im Alltag, was in überdurchschnittlich häufigen Trennungen resultieren kann.

 

In der Elternrolle empfinden viele Frauen mit ADHS eine starke Überforderung, verbunden mit Schuldgefühlen, weil sie den eigenen Ansprüchen nicht genügen. Hinzu kommen nicht selten finanzielle Schwierigkeiten, etwa durch impulsives Ausgabeverhalten oder Probleme, im Berufsleben dauerhaft eine Struktur aufrechtzuerhalten.

In belastenden Phasen besteht zudem ein erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch, sei es zur Selbstmedikation oder zur kurzfristigen Stressregulation. Das Zusammenspiel dieser Faktoren kann einen langfristigen Teufelskreis aus Überforderung, Selbstabwertung und sozialer Instabilität in Gang setzen.

Hormone und zyklusabhängige Schwankungen

Das weibliche Hormonsystem beeinflusst die ADHS-Symptomatik. Östrogene fördern dopaminerge und noradrenerge Signalübertragung – beides zentrale Systeme bei ADHS. Prämenstruell, in der Schwangerschaft, nach der Geburt oder in der Menopause können sich Symptome verschlechtern4. Viele Frauen berichten über verstärkte Impulsivität, emotionale Labilität und Konzentrationsprobleme in diesen Phasen.

Resümee: Weibliche ADHS ernst nehmen

Die Diagnose ADHS bei Frauen ist kein Modetrend, sondern eine notwendige Korrektur eines jahrzehntelangen diagnostischen Bias. Eine gendersensible Diagnostik und Behandlung kann verhindern, dass Frauen mit ADHS ein Leben lang unter den Folgen einer unsichtbaren Störung oder stigmatisierender Fehldiagnosen leiden. Dafür braucht es geschulte Fachkräfte, validierte Instrumente, spezifische Forschung und vor allem: eine breite gesellschaftliche Aufklärung.
  1. Polanczyk, G., de Lima, M., Horta, B. L., Biederman, J., & Rohde, L. A. (2007). The worldwide prevalence of ADHD: A systematic review and metaregression analysis. American Journal of Psychiatry, 164(6), 942–948. ↩︎
  2. Kessler, R. C., et al. (2006). The prevalence and correlates of adult ADHD in the United States: Results from the National Comorbidity Survey Replication. American Journal of Psychiatry, 163(4), 716–723. ↩︎
  3. Nussbaum, N. L. (2012). ADHD and female specific concerns: A review of the literature and clinical implications. Journal of Attention Disorders, 16(2), 87–100. ↩︎
  4. Quinn, P. O., & Madhoo, M. (2014). A review of attention-deficit/hyperactivity disorder in women and girls: Uncovering this hidden diagnosis. The Primary Care Companion for CNS Disorders, 16(3). ↩︎

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Consent Management Platform von Real Cookie Banner