AuDHD

AuDHD – Wenn Autismus und ADHS aufeinandertreffen

Was passiert, wenn die Neurologie eines Menschen gleichzeitig autistisch und ADHS-geprägt ist? Wenn der Drang nach Struktur auf spontane Impulsivität trifft? Wenn Reizempfindlichkeit mit Reizsuche kollidiert? Willkommen in der Welt von AuDHD; einer neurodivergenten Konstellation, die bislang wenig bekannt, aber in der Praxis weit verbreitet ist.

 

In Fachkreisen lange als Ausschlusskombination behandelt, rückt AuDHD erst in den letzten Jahren ins Blickfeld der Forschung – und noch langsamer in das öffentliche Bewusstsein. Für viele Betroffene ist die Erkenntnis, dass sie nicht „zu wenig für ADHS“ und nicht „zu viel für Autismus“ sind, ein befreiender Wendepunkt. AuDHD steht nicht für ein Defizit, sondern für ein spezifisches Zusammenspiel zweier neurokognitiver Muster, das ganz eigene Herausforderungen, Stärken und Dynamiken mit sich bringt und bislang kaum Platz in Diagnostik, Versorgung oder Sprache gefunden hat. Dieser Beitrag will das ändern.

Zwei abstrahierte, sich überlappende menschliche Profile in Aquarelloptik. Die linke Hälfte in kühlen Blau- und Grüntönen mit geometrischen Formen symbolisiert Autismus, die rechte in warmen Orange- und Rottönen mit verspielten Mustern steht für ADHS. In der Mitte mischen sich die Farben zu einem lila Übergang – ein Sinnbild für AuDHD.

Was bedeutet AuDHD?

AuDHD ist ein aus dem englischen Sprachraum stammender Community-Begriff und eine Zusammensetzung aus Autism (Deutsch: Autismus, ASS) und ADHD (Deutsch: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)). Er beschreibt Menschen, die mit beiden Phänomenen leben. Die beiden Diagnosen sind offiziell eigenständig, kommen aber häufiger gemeinsam vor, als lange angenommen wurde. Auf Deutsch sollte das Kunstwort AuDHS heißen, jedoch hat sich diese Begrifflichkeit noch nicht durchgesetzt. Wir halten uns deshalb in diesem Beitrag an den englischen, geläufigen Begriff AuDHD.

Früher durften die Diagnosen Autismus und ADHS gar nicht gemeinsam vergeben werden, die eine hat die andere quasi ausgeschlossen. Dass das Blödsinn ist, zeigen aktuelle Prävalenzzahlen. Längsschnittstudien zeigen: Rund 30–50 % der Menschen mit Autismus erfüllen auch ADHS-Kriterien1. Umgekehrt zeigen etwa 20–30 % der Menschen mit ADHS autistische Züge2. In der klinischen Praxis fällt auf: Je älter die Betroffenen bei Diagnosestellung sind, desto häufiger werden beide Diagnosen erst spät und im Zusammenhang erkannt. 

1+1=2?

Obwohl es sich formal um zwei unterschiedliche Diagnosen handelt, beschreiben viele AuDHD-Betroffene ein sehr spezifisches, eigenes Erleben: Nicht einfach „ADHS plus Autismus“, sondern ein neurokognitiver Zustand mit widersprüchlichen Anforderungen an Aufmerksamkeit, Reizverarbeitung, Kommunikation und Selbstregulation.

Einige typische Alltagssituationen, wie sie Betroffene in  Selbsthilfegemeinschaften schildern:

„Ich brauche feste Routinen, aber ich halte keine Routine durch.“

„Ich bin schnell überfordert von sozialen Reizen und kann es gleichzeitig nicht gut aushalten, alleine zu sein.“

„Ich will Aufgaben strukturieren aber ich verliere mich in Details oder fange fünf Sachen gleichzeitig an.“

„Ich hab ein totales Bedürfnis nach Kontrolle und gleichzeitig keine Impulskontrolle.“

Was für Außenstehende widersprüchlich wirkt, ist für viele Betroffene Alltag: Der gleichzeitige Wunsch nach Struktur und Freiheit, nach Ruhe und Reiz, nach Rückzug und Verbindung.

Neurobiologie: Was sagen Forschung und Theorie?

Die parallele Ausprägung von Autismus und ADHS beruht nicht nur auf einer Überlagerung von Symptomen, sondern auch auf teilweise gemeinsamen neurobiologischen Grundlagen. Beide Profile sind mit veränderten exekutiven Funktionen, atypischer sensorischer Integration und Besonderheiten im dopaminergen System verbunden. Auf der Verhaltens- und Wahrnehmungsebene zeigen sich unterschiedliche Schwerpunkte:

 

BereichADHSAutismus
AufmerksamkeitInstabil, sprunghaft, reizgesteuertFokussiert, oft schwer verteilbar
ImpulskontrolleVermindertHäufig gehemmt, kontrolliert
ReizverarbeitungReizsuche, HyperaktivitätReizempfindlichkeit, Rückzug
Soziale InteraktionUnstrukturiert, impulsivRegelgeleitet, oft distanziert
MotivationBelohnungsgesteuert, novelty-seekingInteressenbasiert, routinesuchend

Dopaminsystem & Belohnungsverarbeitung
ADHS ist eng mit einer Dysregulation des Dopaminsystems verknüpft, insbesondere in Hirnregionen wie dem Striatum und dem präfrontalen Kortex.3 Diese Veränderungen betreffen die Verarbeitung von Belohnung, Motivation und Impulskontrolle. Auch bei Autismus wurden dopaminerge Auffälligkeiten nachgewiesen, jedoch oft im Zusammenhang mit rigidem Verhalten, Routinen und repetitiven Interessen. In AuDHD zeigt sich oft ein paradoxes Muster: Reizsuche und Belohnungssensitivität einerseits, gleichzeitiges Festhalten an Routinen andererseits.

Sensorische Integration
Sensorische Besonderheiten sind sowohl in ADHS als auch bei Autismus beschrieben, jedoch in unterschiedlicher Richtung: Während ADHS häufig mit sensorischer Unterempfindlichkeit und damit verbundenem „Sensory Seeking“ einhergeht, dominiert im Autismus eher eine Überempfindlichkeit gegenüber Reizen.4 Bei AuDHD führt diese Kombination oft zu inneren Spannungen, denn das Bedürfnis nach Stimulation trifft auf Überforderung durch Reizüberfluss.

Exekutive Dysfunktionen
Sowohl Autismus als auch ADHS sind mit Dysfunktionen in Bereichen wie Planung, Inhibition, kognitiver Flexibilität und Arbeitsgedächtnis verbunden – jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Während ADHS vor allem mit Instabilität und Impulsivität assoziiert wird, äußert sich Autismus häufiger durch Rigidität und Planungslastigkeit.5 In der Kombination entsteht häufig ein Muster aus hohem kognitivem Kontrollanspruch bei gleichzeitig fehlender Umsetzungsfähigkeit – etwa: „Ich weiß, wie es gehen müsste, aber ich komme nicht ins Tun.“

Alltagsrealität: Wie zeigt sich AuDHD?

Im Alltag wirkt AuDHD oft wie ein ständiger innerer Spagat. Viele Betroffene berichten, dass sie sich weder in ADHS-Gruppen noch in autistischen Communities ganz zugehörig fühlen. Zu unruhig für die eine Gruppe, zu „sozial“ für die andere.

 

BereichTypische AuDHD-Muster
FokusEntweder keinen Anfang oder kein Ende finden, selten ein Gleichgewicht
OrganisationGuter Plan, schlechte Umsetzung (oder umgekehrt)
KommunikationBedürfnis nach Klarheit, aber impulsives Abschweifen
ReizverarbeitungSensorisches Overload trotz gleichzeitigem Bedürfnis nach Input
Soziale RegelnKognitive Erfassung ohne intuitive Umsetzung, verbunden mit Impulsausbrüchen
MaskingStark ausgeprägt, oft kombiniert mit Überanpassung und Rebound-Erschöpfung

Für viele Betroffene ist das Leben mit AuDHD ein ständiges Austarieren widersprüchlicher innerer Dynamiken. Es fühlt sich an, als würde man zwei unterschiedliche Betriebssysteme gleichzeitig ausführen. Wenn beides zusammentrifft, können sich Symptome wechselseitig verstärken – oder neutralisieren. Hyperfokus kann beispielsweise helfen, autistische Spezialinteressen zu vertiefen, während Impulsivität autistische Routinen destabilisiert. Diese Ambivalenz prägt nicht nur das Innenleben, sondern spiegelt sich auch in sozialen Situationen, beruflichen Anforderungen oder familiären Rollen.

Im Studium etwa kann ein hyperfokussierter Deep-Dive in Spezialinteressen zu exzellenten Ergebnissen führen, gleichzeitig scheitert die Abgabe an der Unfähigkeit, Prioritäten zu setzen, den Anfang zu finden oder Fristen im Blick zu behalten. In der Elternschaft wechseln sich Momente tiefer Verbindung mit Phasen von Überforderung, Frustration und massiver Reizüberflutung ab. Viele erleben einen hohen Anpassungsdruck, da sie in der Welt „funktionieren“ müssen, während ihr inneres Erleben unkoordiniert, sprunghaft oder überladen ist. Die ständige Selbstregulation ist kräftezehrend.

Zwei sehr persönliche und mutige Erfahrungsberichte über das Leben mit AuDHD teilt Marlene hier und hier mit dir.

Warum AuDHD häufig übersehen oder fehldiagnostiziert wird

Ein Grund liegt in der diagnostischen Trennung: ADHS und ASS wurden lange als sich gegenseitig ausschließend betrachtet. Erst seit DSM-5 (2013) ist eine doppelte Diagnose überhaupt offiziell möglich. Dennoch bleibt die Praxis schwierig:

  • Frauen und nicht-binäre Personen zeigen autistische Merkmale oft in sozial angepasster, kompensierter Form. Diese bewusste oder automatisierte Anpassung führt dazu, dass diagnostisch relevante Auffälligkeiten übersehen oder als „ängstlich“, „schüchtern“ oder „hochfunktional“ fehlgedeutet werden.
  • ADHS-Symptome wie Rededrang, Impulsivität oder Hyperaktivität, die Vorliebe für neue Erfahrungen oder die Freude an reizreichen Umgebungen (z. B. Festivals) können von Ärzten und Therapeuten irrtümlich als „nicht zu Autismus passend“ gewertet werden. Gleichzeitig werden typische ADHS Symptome häufig mit hoher Anstrengung überkompensiert (z. B. exzessive Listenführung, sodass nichts vergessen wird).
  • Viele Diagnostiker:innen sind auf eine der beiden Störungen spezialisiert und übersehen die zweite, besonders bei Erwachsenen.

Was hilft? Empfehlungen aus Praxis, Community und Forschung

Was hilft, ist individuell und beginnt häufig nicht bei der Person selbst, sondern beim Umfeld. AuDHD ist keine Störung, die „wegbehandelt“ werden kann, sondern eine Variante menschlicher Neurobiologie mit eigenen Bedürfnissen, Stärken und Herausforderungen. Der Fokus darf daher nicht auf der Korrektur des Verhaltens, sondern muss auf der Schaffung von Bedingungen, in denen neurodivergente Menschen sich entfalten können, liegen. Viele Betroffene profitieren von den folgenden Strategien.

  • Flexible Strukturen: Tagespläne mit Spielraum, keine rigide Planung, aber Orientierungshilfen.
  • Low-Stimulation-Zonen: Physische Rückzugsorte, Noise-Cancelling, Lichtreduktion.
  • Spezialisierte Diagnostik und Psychoedukation: Klar benennen, was ADHS- und was Autismusanteil ist (nicht um zu pathologisieren, sondern um selbstbestimmt und informiert damit umgehen zu können).
  • Reizmenge dosieren lernen: Nicht „entweder oder“, sondern balancieren von Input und Rückzug.
  • Therapieansätze wie ACT oder DBT: Besonders dort hilfreich, wo es um innere Ambivalenz, Impulsregulation und das Leben mit widersprüchlichen Bedürfnissen geht.
  • Community-Anbindung: Austausch mit anderen AuDHD-Menschen ist häufig die wichtigste Ressource für Validierung, Verständnis, praktische Tipps.

Medikamente bei AuDHD

Die Behandlung von AuDHD mit Medikamenten befindet sich noch in einem frühen Forschungsstadium, vor allem im Vergleich zu reinen ADHS-Diagnosen. Dennoch gibt es erste belastbare Hinweise, dass sowohl Methylphenidat (ein Stimulans) als auch Atomoxetin (ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) auch bei Menschen mit gleichzeitiger Autismus- und ADHS-Diagnose wirksam sein können. Studien zeigen eine signifikante Reduktion von ADHS-Symptomen, jedoch mit geringeren Effektstärken und erhöhter Nebenwirkungsanfälligkeit im Vergleich zu allistischen ADHS-Proband:innen.

 

Gerade Menschen im Autismus-Spektrum reagieren oft sensibler auf Veränderungen im zentralen Nervensystem (z. B. durch Schlafstörungen, Appetitveränderungen oder erhöhte Reizoffenheit). Deshalb ist eine individuell angepasste Dosierung und engmaschige ärztliche Begleitung besonders wichtig. In der Praxis begegnet uns oft das Phänomen, dass autistische Merkmale und Wahrnehmungen unter ADHS-Medikation bei AuDHDlern stärker in den Vordergrund treten.

 

Wichtig: Medikamente sind kein Ersatz für ein umfassendes Verständnis der eigenen Neurodivergenz und ein selbstfürsorglicher Umgang mit den eigenen Bedürfnissen. Sie können ein Teil eines multimodalen Ansatzes sein, der Psychoedukation, Umgebungsanpassung und ggf. therapeutische Unterstützung umfasst.

 

Hinweis: Dieser Abschnitt dient ausschließlich der Information und ersetzt keine ärztliche Beratung. Ob eine medikamentöse Behandlung sinnvoll ist, sollte immer im individuellen ärztlichen Gespräch entschieden werden – idealerweise mit Fachpersonen, die sich mit neurodivergenten Profilen auskennen.

Fazit: Zwischen den Kategorien

AuDHD ist keine Modeerscheinung, sondern Ausdruck einer neurobiologischen Realität, die in Diagnostik, Forschung und Therapie bislang kaum adäquat abgebildet wird. Der Begriff ist nicht nur Sammelbezeichnung, sondern ein Versuch, dem Erleben von Menschen gerecht zu werden, die sich in den vorhandenen Schubladen nie ganz wiedergefunden haben.

Für viele ist AuDHD nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Erklärung. Und in manchen Momenten sogar eine Stärke – vorausgesetzt, das Umfeld stimmt, und der eigene Umgang ist geübt.

    1. Leitner, Y. (2014). The co-occurrence of autism and attention deficit hyperactivity disorder in children – what do we know?. Frontiers in Human Neuroscience, 8, 268. https://doi.org/10.3389/fnhum.2014.00268 ↩︎
    2. Antshel, K. M., Zhang-James, Y., & Faraone, S. V. (2016). The comorbidity of ADHD and autism spectrum disorder. Expert Review of Neurotherapeutics, 16(3), 123–130. https://doi.org/10.1586/14737175.2016.1146591 ↩︎
    3. Faraone, S. V., et al. (2015). The World Federation of ADHD International Consensus Statement: 208 Evidence-based Conclusions about the Disorder. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 128, 789–818. https://doi.org/10.3389/fnhum.2014.00268 ↩︎
    4. Lane, A. E., et al. (2014). Sensory processing subtypes in autism: Association with adaptive behavior. Journal of Autism and Developmental Disorders, 44(1), 111–120. ↩︎
    5. Hill, E. L. (2004). Executive dysfunction in autism. Trends in Cognitive Sciences, 8(1), 26–32. ↩︎

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