AuDHD

AuDHD – Wenn Autismus und ADHS aufeinandertreffen

Was passiert, wenn die Neurologie eines Menschen gleichzeitig autistisch und ADHS-geprägt ist? Wenn der Drang nach Struktur auf spontane Impulsivität trifft? Wenn Reizempfindlichkeit mit Reizsuche kollidiert? Willkommen in der Welt von AuDHD – einer neurodivergenten Konstellation, die bislang wenig bekannt, aber in der Praxis weit verbreitet ist.

Was bedeutet AuDHD?

AuDHD ist ein aus dem englischen Sprachraum stammender Community-Begriff und eine Zusammensetzung aus Autism (Deutsch: Autismus, ASS) und ADHD (Deutsch: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)). Er beschreibt Menschen, die mit beiden Phänomenen leben. Die beiden Diagnosen sind offiziell eigenständig, kommen aber häufiger gemeinsam vor, als lange angenommen wurde. Auf Deutsch sollte das Kunstwort AuDHS heißen, jedoch hat sich diese Begrifflichkeit noch nicht durchgesetzt. Wir halten uns deshalb in diesem Beitrag an den englischen, geläufigen Begriff AuDHD.

 

Längsschnittstudien zeigen: Rund 30–50 % der Menschen mit Autismus erfüllen auch ADHS-Kriterien1. Umgekehrt zeigen etwa 20–30 % der Menschen mit ADHS autistische Züge2. In der klinischen Praxis fällt auf: Je älter die Betroffenen bei Diagnosestellung sind, desto häufiger werden beide Diagnosen erst spät und im Zusammenhang erkannt.

1+1=2?

Obwohl es sich formal um zwei unterschiedliche Diagnosen handelt, beschreiben viele AuDHD-Betroffene ein sehr spezifisches, eigenes Erleben: Nicht einfach „ADHS plus Autismus“, sondern ein neurokognitiver Zustand mit widersprüchlichen Anforderungen an Aufmerksamkeit, Reizverarbeitung, Kommunikation und Selbstregulation.

Einige typische Alltagssituationen, wie sie Betroffene in  Selbsthilfegemeinschaften schildern:

„Ich brauche feste Routinen, aber ich halte keine Routine durch.“

„Ich bin schnell überfordert von sozialen Reizen und kann es gleichzeitig nicht gut aushalten, alleine zu sein.“

„Ich will Aufgaben strukturieren aber ich verliere mich in Details oder fange fünf Sachen gleichzeitig an.“

„Ich hab ein totales Bedürfnis nach Kontrolle und gleichzeitig keine Impulskontrolle.“

Was für Außenstehende widersprüchlich wirkt, ist für viele Betroffene Alltag: Der gleichzeitige Wunsch nach Struktur und Freiheit, nach Ruhe und Reiz, nach Rückzug und Verbindung.

Neurobiologie: Was sagen Forschung und Theorie?

Neurobiologisch gibt es überlappende Auffälligkeiten: Beide Diagnosen betreffen exekutive Funktionen, emotionale Regulation und sensorische Integration. Dennoch zeigen sich unterschiedliche Schwerpunkte:

 

BereichADHSAutismus
AufmerksamkeitInstabil, sprunghaft, reizgesteuertFokussiert, oft schwer verteilbar
ImpulskontrolleVermindertHäufig gehemmt, kontrolliert
ReizverarbeitungReizsuche, HyperaktivitätReizempfindlichkeit, Rückzug
Soziale InteraktionUnstrukturiert, impulsivRegelgeleitet, oft distanziert
MotivationBelohnungsgesteuert, novelty-seekingInteressenbasiert, routinesuchend


Wenn beides zusammentrifft, können sich Symptome wechselseitig verstärken – oder neutralisieren. Hyperfokus kann beispielsweise helfen, autistische Spezialinteressen zu vertiefen, während Impulsivität autistische Routinen destabilisiert.

Alltagsrealität: Wie zeigt sich AuDHD?

Im Alltag wirkt AuDHD oft wie ein ständiger innerer Spagat. Viele Betroffene berichten, dass sie sich weder in ADHS-Gruppen noch in autistischen Communities ganz zugehörig fühlen. Zu unruhig für die eine Gruppe, zu „sozial“ für die andere.

BereichTypische AuDHD-Muster
FokusEntweder keinen Anfang oder kein Ende finden, selten ein Gleichgewicht
OrganisationGuter Plan, schlechte Umsetzung (oder umgekehrt)
KommunikationBedürfnis nach Klarheit, aber impulsives Abschweifen
ReizverarbeitungSensorisches Overload trotz gleichzeitigem Bedürfnis nach Input
Soziale RegelnKognitive Erfassung ohne intuitive Umsetzung, verbunden mit Impulsausbrüchen
MaskingStark ausgeprägt, oft kombiniert mit Überanpassung und Rebound-Erschöpfung

Warum AuDHD häufig übersehen oder fehldiagnostiziert wird

Ein Grund liegt in der diagnostischen Trennung: ADHS und ASS wurden lange als sich gegenseitig ausschließend betrachtet. Erst seit DSM-5 (2013) ist eine doppelte Diagnose überhaupt offiziell möglich. Dennoch bleibt die Praxis schwierig:

 

  • Frauen und nicht-binäre Personen zeigen autistische Merkmale oft in sozial angepasster, kompensierter Form. Diese bewusste oder automatisierte Anpassung führt dazu, dass diagnostisch relevante Auffälligkeiten übersehen oder als „ängstlich“, „schüchtern“ oder „hochfunktional“ fehlgedeutet werden.
  • ADHS-Symptome wie Rededrang, Impulsivität oder Hyperaktivität können von Ärzten und Therapeuten irrtümlich als „nicht-autistisch“ gewertet werden. Gleichzeitig werden typische ADHS Symptome häufig mit hoher Anstrengung überkompensiert.
  • Viele Diagnostiker:innen sind auf eine der beiden Störungen spezialisiert und übersehen die zweite, besonders bei Erwachsenen.

Was hilft? Empfehlungen aus Praxis, Community und Forschung

Was hilft, ist individuell und beginnt häufig nicht bei der Person selbst, sondern beim Umfeld. AuDHD ist keine Störung, die „wegbehandelt“ werden kann, sondern eine Variante menschlicher Neurobiologie mit eigenen Bedürfnissen, Stärken und Herausforderungen. Der Fokus darf daher nicht auf der Korrektur des Verhaltens, sondern muss auf der Schaffung von Bedingungen, in denen neurodivergente Menschen sich entfalten können, liegen. Viele Betroffene profitieren von den folgenden Strategien.

  • Flexible Strukturen: Tagespläne mit Spielraum, keine rigide Planung, aber Orientierungshilfen.
  • Low-Stimulation-Zonen: Physische Rückzugsorte, Noise-Cancelling, Lichtreduktion.
  • Spezialisierte Diagnostik und Psychoedukation: Klar benennen, was ADHS- und was Autismusanteil ist (nicht um zu pathologisieren, sondern um selbstbestimmt und informiert damit umgehen zu können).
  • Reizmenge dosieren lernen: Nicht „entweder oder“, sondern balancieren von Input und Rückzug.
  • Therapieansätze wie ACT oder DBT: Besonders dort hilfreich, wo es um innere Ambivalenz, Impulsregulation und das Leben mit widersprüchlichen Bedürfnissen geht.
  • Community-Anbindung: Austausch mit anderen AuDHD-Menschen ist häufig die wichtigste Ressource für Validierung, Verständnis, praktische Tipps.

Fazit: Zwischen den Kategorien

AuDHD ist keine Modeerscheinung, sondern Ausdruck einer neurobiologischen Realität, die in Diagnostik, Forschung und Therapie bislang kaum adäquat abgebildet wird. Der Begriff ist nicht nur Sammelbezeichnung, sondern ein Versuch, dem Erleben von Menschen gerecht zu werden, die sich in den vorhandenen Schubladen nie ganz wiedergefunden haben. Für viele ist AuDHD nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Erklärung. Und in manchen Momenten sogar eine Stärke – vorausgesetzt, das Umfeld stimmt, und der eigene Umgang ist geübt.
  1. Leitner, Y. (2014). The co-occurrence of autism and attention deficit hyperactivity disorder in children – what do we know?. Frontiers in Human Neuroscience, 8, 268. https://doi.org/10.3389/fnhum.2014.00268 ↩︎
  2. Antshel, K. M., Zhang-James, Y., & Faraone, S. V. (2016). The comorbidity of ADHD and autism spectrum disorder. Expert Review of Neurotherapeutics, 16(3), 123–130. https://doi.org/10.1586/14737175.2016.1146591 ↩︎

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