Autismus bei Frauen

Autismus bei Frauen

Autismus bei Frauen wird häufig übersehen oder erst spät erkannt. Viele Betroffene erhalten ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter, oft nach Jahren der Selbstzweifel und Fehldiagnosen. Dieser Beitrag beleuchtet die Gründe dafür und möchte betroffenen Frauen Mut machen, ihren Erfahrungen zu vertrauen.

 

Autismus gilt in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor als männlich. Das klassische Bild ist: der still wirkende Junge mit einem intensiven Interesse an Zügen, sozial ungeschickt, emotional distanziert, technikaffin und vielleicht sogar rechnerisch hochbegabt, also genau das Bild, das durch mediale Figuren wie Rain Man oder Sheldon Cooper ständig wiederholt wird. Dieses Stereotyp prägt nicht nur Medien und Gesellschaft, sondern auch Diagnostik, Forschung und klinische Praxis und das hat leider gravierende Folgen für Mädchen, Frauen und andere nichtmännliche Menschen, die autistisch sind.

Die Forschungslücke: zu männlich, zu schmal

Lange Zeit basierte Autismusforschung fast ausschließlich auf männlichen Stichproben. Die Diagnosekriterien im DSM oder ICD wurden entlang dieser Merkmale entwickelt. Inzwischen zeigen Studien, dass autistische Frauen und Mädchen häufig subtilere Merkmale zeigen, die vom typischen männlichen Profil abweichen1. Sie sind oft sozial aktiver, gelten als einfühlsam, freundlich oder hilfsbereit. Manche zeigen sogar eine ausgeprägte Hyperempathie. Sie haben meist einige wenige, aber intensive Freundschaften und sind sehr darum bemüht, akzeptiert zu werden2. Ihre Spezialinteressen sind häufig gesellschaftlich akzeptierter (z. B. Tiere, Musik, Literatur) und dadurch weniger auffällig. Viele internalisieren ihre Schwierigkeiten, was zu einer hohen Rate an Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen führt.

Camouflaging und Masking: Anpassung um jeden Preis

Autistische Frauen und nicht-binäre Personen betreiben häufig sogenanntes Camouflaging oder Masking: Sie beobachten ihr Umfeld genau, imitieren neurotypisches Verhalten und versuchen, autistische Merkmale zu unterdrücken oder zu verstecken. Das führt dazu, dass sie im Alltag oft nicht auf- und in der Diagnostik durch das Raster fallen.

Diese Anpassungsleistung ist jedoch kein Zeichen „milderer“ Autismusformen, sondern eine enorme Belastung. Studien belegen, dass starkes Masking mit höheren Raten von Burn-out, Depressionen und Suizidalität einhergeht3.

Miss- und Fehldiagnosen

Viele autistische Frauen erhalten über Jahre andere Diagnosen: Depression, Borderline, generalisierte Angststörung, PTBS, ADHS. Manche dieser Diagnosen sind nicht falsch, aber sie erklären nicht das ganze Bild. Der autistische Anteil bleibt oft übersehen, obwohl die autistische Wahrnehmung ganz erheblich dazu beiträgt, dass sich in einer überfordernden, für neurotypische Menschen gemachten Welt psychische Folgeprobleme einstellen. 

Die Zuschreibungen entlang geschlechtlicher Stereotype beginnen früh: Wenn ein Junge nicht interagiert, wird eine Autismusdiagnose in Betracht gezogen – ein Mädchen ist dann eben schüchtern. Wenn ein Junge ein auffälliges Spezialinteresse zeigt, ist das ein Hinweis auf Autismus und die Diagnostik kommt ins Rollen – bei Mädchen wird es als „quirky“ oder Phase abgetan. Wenn es einem Jungen über längere Zeit schlecht geht, ist es womöglich Teil seines autistischen Erlebens – bei einem Mädchen wird eher an Depression oder Stimmungsschwankungen gedacht. Und wenn im jungen Erwachsenenalter erste Dekompensationen mit starken Stimmungseinbrüchen auftreten, hat der junge Mann bereits seit Jahren seine Autismusdiagnose und die Phänomene können vor dieser eingeordnet werden, während bei Frauen nun eher eine Borderline oder bipolare Störung diagnostiziert wird.

 

Insbesondere ADHS und Autismus werden bei Frauen oft erst im Erwachsenenalter erkannt, wenn der Leidensdruck nicht mehr kompensierbar ist. Das führt zu späten Aha-Momenten, aber auch zu Trauer darüber, nicht früher verstanden worden zu sein.

Gender Bias und stereotype Bilder

Auch stereotype Bilder von Autismus, wie sie in Medien, Schule, Familie und Therapie vermittelt werden, tragen dazu bei, dass autistische Frauen übersehen werden. In Filmen, Serien und Dokumentationen dominieren männliche Darstellungen: der technikaffine Einzelgänger, das mathematische Genie, der sozial unbeholfene Nerd. Figuren wie Sheldon Cooper in „The Big Bang Theory“ oder der junge Rain Man haben das Bild geprägt, wie Autismus vermeintlich aussieht. Dass Autismus auch anders aussehen kann (stiller, sozial integrierter, emotional feinsinnig) wird noch viel zu selten dargestellt. Medien reproduzieren so ein verzerrtes Bild, das viele reale Erfahrungen unsichtbar macht.

Eltern und Lehrkräfte erwarten oft, dass Kinder mit Autismus „auffällig“ oder „sozial distanziert“ sein müssen. In Schulen gelten Mädchen, die still, ordentlich und gewissenhaft sind, sich an alle Regeln halten und niemals negativ auffallen, als brav, dabei kann genau dieses Verhalten ein Zeichen für Masking sein.

 

Auch Therapeut:innen übersehen Autismus, wenn Patientinnen ihre Überforderung sozial geschickt verpacken. Das kann dazu führen, dass neurodivergente Bedürfnisse nicht erkannt, verstanden oder ernst genommen werden.

Wie sich das Geschlechterverhältnis verändert

Früher ging man davon aus, dass Autismus etwa vier- bis fünfmal häufiger bei Jungen als bei Mädchen vorkommt. Heute zeigen neuere Studien, dass das Verhältnis möglicherweise deutlich ausgeglichener ist – wenn auch immer noch nicht gleichverteilt4. Mit wachsender Sensibilisierung, besseren Diagnosekriterien und -instrumenten und mehr Selbstaufklärung unter Frauen und nicht-binären Personen wird klar: Es gibt viel mehr autistische Frauen als lange angenommen. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass sich das Geschlechterverhältnis weiter angleicht, je mehr stereotype Bilder von Autismus hinterfragt und überwunden werden.

Was sich ändern muss

Wichtig bei alldem ist: Die vom stereotypen Autismusbild abweichende Darstellung ist keineswegs nur bei Frauen oder Mädchen zu finden. Auch viele cis Männer zeigen eine stille, empathische, sozial orientierte Form von Autismus, die durch gängige Schemata fällt. Ebenso erleben intergeschlechtliche und trans Personen häufig eine doppelte Unsichtbarkeit, da sie weder im klinischen Blick noch in der gesellschaftlichen Vorstellung von Autismus vorkommen. Diagnostik, Forschung und Öffentlichkeit müssen also nicht nur geschlechtersensibler, sondern insgesamt vielfältiger werden.

Die Vorstellung davon, wie Autismus aussieht, muss breiter, inklusiver und geschlechtersensibler werden. Diagnostik darf sich nicht am veralteten Stereotyp orientieren, sondern muss Raum lassen für neurodivergente Vielfalt.

Das bedeutet: mehr Forschung mit diversen Stichproben. Mehr Fortbildung für Fachpersonen. Mehr Sichtbarkeit für autistische Frauen und nicht-binäre Menschen. Und vor allem: mehr Offenheit für die Tatsache, dass Autismus sich sehr unterschiedlich zeigen kann – und trotzdem echt ist.

  1. Bargiela, S., Steward, R., & Mandy, W. (2016). The Experiences of Late-diagnosed Women with Autism Spectrum Conditions: An Investigation of the Female Autism Phenotype. Journal of Autism and Developmental Disorders, 46(10), 3281–3294. https://doi.org/10.1007/s10803-016-2872-8 ↩︎
  2. Lai, M.-C., Lombardo, M. V., Auyeung, B., Chakrabarti, B., & Baron-Cohen, S. (2015). Sex/gender differences and autism: Setting the scene for future research. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 54(1), 11–24. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2014.10.003 ↩︎
  3. Cage, E., & Troxell-Whitman, Z. (2019). Understanding the Reasons, Contexts and Costs of Camouflaging for Autistic Adults. Journal of Autism and Developmental Disorders, 49(5), 1899–1911. https://doi.org/10.1007/s10803-018-03878 ↩︎
  4. Loomes, R., Hull, L., & Mandy, W. P. L. (2017). What Is the Male-to-Female Ratio in Autism Spectrum Disorder? A Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 56(6), 466–474. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2017.03.013 ↩︎

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