Behinderung

Behinderung ist ein gesellschaftliches Konstrukt

Was bedeutet es eigentlich, behindert zu sein? Und warum ist dieser Begriff in unserer Gesellschaft nach wie vor mit so viel Scham, Unsicherheit und Abwertung verbunden? Hinter dem Wort „behindert“ liegt eine Vielzahl unausgesprochener Annahmen – über Leistungsfähigkeit, Normalität und den Wert eines Menschen.

Dieser Beitrag stellt zwei unterschiedliche Zugänge zu Behinderung vor: das medizinische und das soziale Modell von Behinderung.

Medizinisches vs. soziales Modell

Das medizinische Modell betrachtet Behinderung als im Individuum liegendes Defizit oder als „Störung“, die idealerweise therapiert, korrigiert oder kompensiert werden soll. Behinderung liegt hier „im Körper“ oder „im Gehirn“ der betroffenen Person. Sie gilt als Abweichung von einer vermeintlich gesunden Norm1.

Das soziale Modell stellt diese Sichtweise auf den Kopf. Es sagt: Behinderung entsteht nicht (nur) durch eine körperliche oder kognitive Besonderheit, sondern vor allem durch gesellschaftliche Barrieren2.

 

Wenn ein Mensch nicht hören kann, aber Gebärdensprache überall selbstverständlich wäre, wäre er nicht behindert. Wenn ein autistischer Mensch in einer reizarmen, toleranten Umgebung leben und arbeiten könnte, würde er sich nicht als defizitär erleben. Neurodivergente Menschen, wie Autist:innen oder Personen mit ADHS, werden oft durch gesellschaftliche Erwartungen und mangelnde Anpassungen in Bildung und Arbeitswelt behindert. Wenn Lernumgebungen oder Arbeitsplätze nicht auf unterschiedliche Denk- und Wahrnehmungsweisen eingehen, entstehen Barrieren, die Teilhabe erschweren3.


Behinderung ist also nicht nur eine (nach Möglichkeit um jeden Preis zu vermeidende) Eigenschaft einer Person, sondern das Ergebnis einer Umwelt, die auf bestimmte „gesunde“ Körper und Verhaltensweisen ausgerichtet ist und andere systematisch ausschließt.

Unsichtbarkeit und Tabuisierung

In Deutschland erlebe ich Behinderung gesamtgesellschaftlich nach wie vor als ziemlich unsichtbar. Wer behindert ist, soll sich möglichst „einfügen“, „nicht auffallen“, „nicht stören“. Es existiert kaum ein positiver öffentlicher Diskurs, der Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt feiert. Stattdessen wird sie entweder romantisiert („trotz Behinderung so tapfer“) oder problematisiert („Leid vermeiden“). In vielen Köpfen ist Behinderung immer noch das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann.

 

Das zeigt sich auch in der Reaktion rund um pränatale Diagnostik oder bei der Geburt: „Hauptsache gesund!“ ist ein gut gemeinter Satz, aber er transportiert eine klare Botschaft: Ein behindertes Kind ist nicht wünschenswert. Weniger willkommen. Vielleicht sogar weniger liebenswert. Der erste Fehler, den ein Mensch bereits vor seiner Geburt machen kann, um beim Umfeld maximal schlechte Gefühle auszulösen, ist es, behindert zu sein.

 

(Dies ist natürlich eine bewusst provokant formulierte Verallgemeinerung. Es gibt durchaus viele Menschen, die in einem behinderten Menschen den gleichen Wert erkennen, wie in einem nichtbehinderten, und die allen gleichermaßen offen entgegentreten können. Und vor allem gibt es viele Menschen, die ihre Meinung zu dem Thema ändern, sobald sie regelmäßig mit einem Menschen mit Behinderung in ihrem direkten Lebensumfeld konfrontiert sind. Sie lernen: Das Leben mit Behinderung ist anders, aber nicht zwingend schrecklich und voller Leid.)

 

Diese Haltung – ob ausgesprochen oder subtil vermittelt – hat schwerwiegende Folgen. Eltern wollen kein behindertes Kind. Sie sind erleichtert, wenn nach der Geburt bescheinigt wird, dass „alles dran“ ist. Sie tragen die Idee in sich, dass das Leben mit einem behinderten Kind ein schlimmes, schlimmes Schicksal ist. 

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass manche Eltern dazu neigen, autistisches oder „auffälliges“ Verhalten ihres neurodivergenten Kindes zu kritisieren, zu unterdrücken, „wegzutrainieren“. Sie halten an ihrem Bild von einem gesunden Kind fest und es verlangt eine große Anpassungsleistung des Gehirnes, anzunehmen: Mein körperlich gesundes Kind hat eine versteckte Behinderung. Das Kind lernt schon sehr früh: So wie ich bin, bin ich falsch. Und beginnt zu maskieren.

Scham, Selbstwert, System

Diese früh internalisierte Ablehnung hat gravierende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl vieler behinderter und neurodivergenter Menschen. Wenn die Gesellschaft suggeriert, dass dein Wert sich daran bemisst, wie gut du funktionierst, dich anpasst oder wirtschaftlich beiträgst, bleibt wenig Raum für Selbstakzeptanz.

In unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft gilt Produktivität als höchste Tugend. Wer arbeitet, verdient. Wer verdient, zählt. Wer nicht funktioniert, wird schnell als Last oder zumindest als irgendwie ein bisschen minderwertig gesehen. Das betrifft nicht nur körperlich behinderte Menschen, sondern genauso viele Autist:innen, ADHSler:innen, chronisch Kranke oder psychisch belastete Personen. Der Maßstab lautet nicht: Was brauchst du, um gut leben zu können? Sondern: Was kannst du leisten?

Was sich ändern muss

Wir als Gesellschaft müssen dringend umdenken. Nicht Behinderung ist das Problem, sondern die Strukturen, die Menschen behindern. Nicht die Diagnose macht das Leben schwer, sondern die fehlende Barrierefreiheit – im Kopf, in den Schulen, am Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen.

 

Wir brauchen eine Gesellschaft, die das soziale Modell von Behinderung in den Fokus stellt. Die versteht, dass Vielfalt kein Risiko, sondern eine Ressource ist. Die Räume schafft, in denen auch Menschen mit Entwicklungsstörungen, Behinderungen oder chronischen Erkrankungen nicht nur überleben, sondern gut leben, sich entwickeln und teilhaben können. Um echte Inklusion zu erreichen, müssen politische und gesellschaftliche Strukturen geschaffen werden, die Vielfalt anerkennen und fördern4. Dies umfasst barrierefreie Bildung, inklusive Arbeitsplätze und eine Sensibilisierung für unterschiedliche Bedürfnisse.

 

Dazu gehört auch, dass wir unsere eigenen Ängste und Abneigungen gegenüber Behinderung hinterfragen. Warum finden wir den Gedanken an Behinderung so bedrohlich? Warum fällt es so schwer, Autismus nicht als „Mangel“, sondern als Teil einer vielfältigen Menschheit zu begreifen?

 

Solange wir Behinderung mit Defizit gleichsetzen, erzeugen wir Scham, wo doch eigentlich Unterstützung, Stolz und Respekt notwendig sind.

  1. World Health Organization. (2022). International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics (11th Revision). https://icd.who.int/browse11/l-m/en ↩︎
  2. Oliver, M. (2013). The social model of disability: thirty years on. Disability & Society, 28(7), 1024–1026. https://doi.org/10.1080/09687599.2013.818773 ↩︎
  3. Disability Wales. (n.d.). Neurodiversity and the Social Model of Disability. https://www.disabilitywales.org/neurodiversity-and-the-social-model-of-disability/ ↩︎
  4. Barnes, C., Oliver, M., & Barton, L. (2002). Disability Studies Today. Polity Press. ↩︎

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Consent Management Platform von Real Cookie Banner