ADHS oder ASS Diagnose im Erwachsenenalter – und jetzt?
Viele von uns haben sich ein Leben lang angepasst, kompensiert, funktioniert (mal besser, und mal schlechter…). Wir haben Erwartungen erfüllt, uns durch den Alltag gekämpft, unsere Symptome überdeckt oder fehlinterpretiert. Und dann, irgendwann (oft spät) kommt die Diagnose: ADHS. Autismus. Oder beides. Und plötzlich ergibt vieles Sinn.
Doch mit der Klarheit kommt nicht nur Erleichterung. Die Diagnose ist kein End-, sondern ein Wendepunkt. Sie ist der Moment, in dem wir beginnen, gleichzeitig zurück- und nach vorn zu schauen – mit vielen Fragen.
Was war und was hätte sein können
Nach der Diagnose schauen viele von uns zurück auf ein Leben, das von (innerem und äußerem) Unverständnis, versteckten oder offen sichtbaren Schwierigkeiten, Selbstzweifeln und Momenten des augenscheinlichen Scheiterns geprägt war. Wir sehen Schuljahre, in denen wir still gelitten haben. Beziehungen, die zerbrochen sind, weil wir unsere Grenzen nicht kannten oder kommunizieren konnten. Jobs, in denen wir ständig über unsere Belastungsgrenzen gegangen sind, um „normal“ zu wirken. Nachvollziehbar, dass sich Wut oder Trauer melden: über verpasste Chancen, verspätete Erkenntnisse, fehlendes Verständnis.
Gleichzeitig kann diese Rückschau auch versöhnlich sein. Plötzlich ist klar: Wir waren nie „faul“, „ein bisschen dumm“ oder „zu empfindlich“. Wir waren neurodivergent und in einer Welt unterwegs, die darauf nicht vorbereitet war.
Wer bin ich, wenn ich nicht mehr funktionieren muss?
Die Diagnose bringt die Chance mit sich, sich neu zu entdecken. Aber das ist nicht immer nur ein freudvoller, leichtgängier Prozess. Viele spätdiagnostizierte Menschen berichten davon, dass sie zunächst in eine Art Identitätskrise geraten. Wer bin ich denn eigentlich, wenn ich aufhöre, mich zu verstellen? Was bleibt von mir, wenn ich aufhöre, meinen Wert und meine Identität mit meiner Funktionsfähigkeit zu begründen?
Es kann helfen, diese Fragen nicht als Problem, sondern als Einladung zu sehen. Die späte Diagnose erlaubt es uns, uns selbst mit mehr Mitgefühl zu begegnen. Uns von neurotypischen Maßstäben zu lösen. Unsere Reizempfindlichkeit ernst zu nehmen, unsere Art zu denken zu respektieren, unsere sozialen Grenzen zu schützen und uns letztendlich auch ein bisschen Verständnis, Wärme, Liebe, Nachsicht und Freundlichkeit zu geben, die unser jüngeres Ich in vielen Momenten so dringend benötigt hätte.
Gesehen werden, ernst genommen werden
Viele wünschen sich, nach der Diagnose besser verstanden zu werden. Doch das Umfeld reagiert nicht immer so, wie wir es uns erhoffen. Manche von uns darf sich anhören: „Aber mit ADHS hättest du doch keine so guten Noten …“, oder: „Aber das ist dir doch bisher alles gar nicht so schwer gefallen!“ Andere versuchen, zu trösten, und sagen: „Aber wir sind doch alle ein bisschen autistisch! (Guck, ich hab auch einen Lieblingslöffel …)“.
All das kann sich invalidierend anfühlen und lässt uns auch mit Diagnose oft in einer Erklärungs- und Rechtfertigungsposition. Wir müssen immer noch beweisen, dass unser Erleben echt ist und so manch eine von uns hinterfragt sich nach solchen Erfahrungen erneut: Bilde ich mir das doch alles nur ein? Habe ich die Diagnostikerin ausgetrickst? Vielleicht „fake“ ich meine Symptome und bin doch einfach nur faul?
Aber: Du musst dich nicht rechtfertigen! Nicht für deine Diagnose. Nicht für deine Art zu fühlen, zu denken oder dich zu regulieren. Du darfst dir und deiner Wahrnehmung vertrauen. Sie ist deine Realität und damit genauso wahr und echt und legitim wie Frau Müllers sehr neurotyptische Verabeitung der Welt auch.
Zwischen Heilung und Selbstoptimierungsfalle
Nach der Diagnose entsteht oft der Wunsch, jetzt alles „richtig“ machen zu wollen. Endlich die passende Therapie. Die richtige Ernährung. Das ideale Zeitmanagement. Besser mit Reizen umgehen. Endlich „neurofreundlich“ leben.
All das kann hilfreich sein, aber es kann auch stressen. Denn plötzlich baut sich ein ganz neuer Leistungsdruck auf: diesmal mit anderen Vorzeichen. Es lohnt sich, innezuhalten und sich zu fragen: Was davon tut mir wirklich gut, und was fühlt sich an wie ein neuer Anpassungsversuch? Druck raus!!
Die späte Diagnose ist keine Schablone, die du über dein Leben legen musst. Sie ist ein Werkzeug, mit dem du dir die Welt ein kleines bisschen passender gestalten darfst. Und sie ist die Erlaubnis, nicht mehr alles wie früher zu machen. Du darfst dich neu sortieren. Du darfst dir erlauben, müde zu sein. Du darfst Dinge ausprobieren, und sie auch wieder verwerfen.
Du darfst sein.