Reizverarbeitung bei Autismus

Stell dir vor, du befindest dich auf einem belebten Marktplatz: Stimmengewirr, Musik aus Lautsprechern, der Geruch von Essen, das Flimmern von Werbung, vibrierende Motoren, der Wind, der Kleidung an deinem Arm streift. Für die meisten (nicht autistischen) Menschen ist das eine Kulisse, aus der sie ganz automatisch die relevanten Informationen filtern und ins Bewusstsein rücken und den Rest rasch „ausblenden“. Doch für viele Menschen im Autismus-Spektrum ist genau das eine permanente Herausforderung: Es gibt keinen „unsichtbaren Filter“, der nervige Hintergrundgeräusche ausblendet oder flackerndes Licht in den Hintergrund rückt. Stattdessen wirkt alles gleich „gehörig“, „hell“, „spürbar“ und verlangt Aufmerksamkeit.
In diesem Artikel untersuchen wir, wie sich Reizverarbeitung bei Autismus gegenüber dem neurotypischen Verarbeitungsstil unterscheidet, und zwar auf neurologischer, kognitiver und alltäglicher Ebene. Wir schauen uns Modelle und empirische Befunde an, und wir übersetzen sie in Erleben und Verhalten. Am Ende skizzieren wir, wie dieses Wissen konkret helfen kann, zum Beispiel beim Umfeld-Design oder bei gezielten Trainingsstrategien.

1. Grundlagen: Was heißt Reizverarbeitung?

Ganz grundsätzlich interagieren wir als Lebewesen ständig mit unserer Umwelt. Unser Gehirn nimmt diverse Reize und Sinneseindrücke auf, verarbeitet diese und setzt sie zu einem sinnvollen Erleben um, welches uns hilft, uns in der Welt zurecht zu finden. Weil es sehr viele verschiedene Sinneseindrücke gibt und dieser Prozess der Verarbeitung aufwändig ist, hat das Gehirn Tricks entwickelt, um ein bisschen Energie zu sparen.

 

Mit dem Erwachsenwerden hat es viele Erfahrungen gesammelt und Informationen über die Welt erhalten, sodass es Schätzungen, Annäherungen, Mutmaßungen und Vorhersagen über unsere Umgebung treffen kann. Häufig sind die so nah an der „Realität“, dass jetzt nur noch ein kleiner Teil an echtem sensorischem Input nötig ist, um das Bild zu vervollständigen bzw. zu bestätigen. Zum Beispiel weißt du in deinem Kopf relativ genau, wie dein Zimmer aussieht. Wenn du es betrittst, muss dein Gehirn nun nicht alle Details wahrnehmen und verarbeiten, weil es mit einer Schätzung/Vorhersage über das Aussehen deines Zimmers arbeiten kann.

1.1 Bottom-up vs. Top-down

Bevor wir nun Unterschiede zwischen autistischen und allistischen Personen betrachten, müssen wir zwei grundlegende Richtungen der Informationsverarbeitung klären:

  • Bottom-up (Datengetrieben): Sensorische Eingaben (Licht, Klang, Berührung etc.) gelangen ins Gehirn und werden zunehmend verarbeitet und integriert, bis ein Gesamtbild entsteht.
  • Top-down (Vorhersagen, Erwartungen): Höhere Gehirnareale arbeiten mit Modellen der Umwelt (Erwartungen, Erfahrungen, Kontext), denen sensorische Daten gegenübergestellt werden.

Effiziente Wahrnehmung benötigt ein Zusammenspiel: Reize werden nicht nur einfach „herein gelassen“, sondern in Relation zu Erwartungen interpretiert. Stimmt der Sensorreiz mit der Vorhersage überein, wird er gedämpft behandelt; weicht er ab, erzeugt er einen Vorhersagefehler. Wenn zum Beispiel in deinem Zimmer plötzlich ein pinker Sessel steht, dann weicht das von der Vorhersage ab und gelangt ins Bewusstsein.

1.2 Präzisionsgewichtung und Vorhersagefehler

In modernen Modellen der Reizverarbeitung und -integration (z. B. predictive coding, Bayesianische Ansätze) spielt der Begriff Präzision eine zentrale Rolle: Wie stark gewichte ich einen Vorhersagefehler relativ zur Zuverlässigkeit (Unsicherheit) meiner Vorhersage? Eine hohe Präzision macht den Fehler „bedeutungsvoller“.

In unserem Zimmerbeispiel könnte eine hohe Präzision bedeuten, dass ein Möbelstück ein kleines bisschen verrückt ist und dies von der Vorhersage abweicht, was dann bewusst wahrgenommen wird. Bei einer niedrigen Präzision würde dies nicht auffallen, ebenso wenig, dass eine freundliche Person die Fenster geputzt, die Blumen gegossen, den Staub gewischt und das Bett gemacht hat.

 

Bei Autismus wird oft angenommen, dass die Gewichtung von Vorhersagefehlern zu starr oder überhöht ist — das heißt, selbst kleine Abweichungen werden stark beachtet.1

Je nachdem, wie stark die Präzision ist und wie bedeutsam Vorhersagefehler wahrgenommen werden, kann der betroffene Mensch besser oder schlechter irrelevante Abweichungen herausfiltern.

1.3 Reizfilterung und Filterungseffizienz

Ein Teil der sensorischen Regulation geschieht bereits früh – etwa in thalamischen Stationen oder via kortikaler Hemmung. Diese Filtermechanismen unterdrücken irrelevante Reize und dämpfen Überflutung. Bei Menschen mit Autismus scheint diese Filterung weniger effizient oder weniger stabil zu sein, sodass mehr sensorischer Input ungedämpft weitergeleitet wird.

2. Neuronale Besonderheiten in der Reizverarbeitung

Jetzt wird es hier kurz etwas abstrakt und wir gehen auf neuronale Besonderheiten autistischer Menschen ein (für die Neuronerds… :-)) Wenn dich die ganzen Fachbegriffe überfordern, dann darfst du diesen Teil überspringen und bei Punkt 4 weiterlesen. Dort wird es wieder etwas verhaltensnäher. 

2.1 Thalamus, thalamokortikale Schleifen und Filterung

Der Thalamus ist ein wichtiger „Torwächter“ für sensorische Informationen, bevor sie in die Rinde gelangen. Bei Autismus zeigen bildgebende Studien Unterschiede in der thalamokortikalen Kopplung und in der funktionellen Konnektivität sensorischer Areale (auch über Modalitäten hinweg).2 Eine weniger modulierte thalamische Filterung bedeutet, dass Reize mit geringerer Relevanz stärker weitergeleitet werden.

 

2.2 E/I-Balance: Exzitation und Inhibition

Viele Theorien postulieren, dass bei Autismus ein erhöhtes Verhältnis von Erregung gegenüber Hemmung (E/I) besteht, z. B. durch gestörte GABAerge oder Glutamaterge Systeme.3 Solch eine Imbalance kann dazu führen, dass Sensorneuronen leichter aktiviert werden und dass die Hemmung (Filterung) weniger restriktiv ist. In der Folge kann jeder Reiz stärker durchdringen.

 

2.3 Neuromodulatorische Systeme (z. B. Noradrenalin / LC-NE)

Das Locus coeruleus – Noradrenalin-System (LC-NE) reguliert den „Gain“ (Verstärkungsfaktor) neuronaler Signale. Studien deuten darauf hin, dass bei Autismus tonische (grundlegende) Aktivität höher sein kann, was dazu führt, dass sensorische Signale mit größerem Gain durchgelassen werden. Das passt zu Beobachtungen gesteigerter Pupillenreaktion und physiologischer Erregung.4

 

2.4 Multisensorische Integration, Timing und das Cerebellum

Reize aus verschiedenen Sinneskanälen müssen zeitlich koordiniert werden. Menschen mit Autismus zeigen oft eine verzögerte oder weniger flexible Integration (z. B. beim point of subjective simultaneity)5. Das Kleinhirn (Cerebellum) spielt eine Rolle bei dem zeitlichen Feintuning und prädiktiven Timing, und es gibt Hinweise, dass seine Konnektivität bei Autismus anders organisiert ist, was die Multisensorik stören kann.

3. Aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung

Hier noch ein Überblick über interessante, neuere empirische Ergebnisse (auch noch ziemlich technisch und voller Fachwörter, überspring diesen Teil gern wenn das für dich nicht interessant ist):

 

3.1 Habituation & Adaptation

Autistische Personen zeigen in vielen Studien eine reduzierte Habituation (also eine Gewöhnung) an wiederholte oder gleichförmige Reize. Der neuronale und physiologische „Rückgang“ der Reaktion über Zeit ist schwächer.6 Wenn sich die Umgebung ändert (z. B. neue Frequenzbereiche), ist die Anpassung langsamer.7 Eine neuere Arbeit konnte zeigen, dass solche Unterschiede besonders in dynamischen Umgebungen sichtbar werden, bei denen Flexibilität gefordert ist.8

 

3.2 Präzisionsgewichtung und Vorhersagefehlerkodierung

Arbeiten zur precision weighting zeigen, dass Menschen mit autistischen Merkmalen eine besonders niedrige Toleranz gegenüber Abweichungen aufweisen, das heißt, die Präzisionsgewichtung ist zu stark auf Vorhersagefehler ausgerichtet.1

Eine neuere neuroimaging-Studie fand heraus, dass der anterior cingulate cortex (ACC) bei mittleren Vorhersagefehlern bei Neurotypischen negativ mit Aktivität korreliert (Regulation), aber bei Autisten dieser Zusammenhang fehlt. In ASD findet man stattdessen stärkere Assoziationen zwischen mittleren Fehlern und Aktivität in Regionen wie dem Putamen.9

 

Das bedeutet: Bei autistischen Personen reagiert das Gehirn auf Abweichungen nicht mit der üblichen top-down-Regulation durch den anterioren cingulären Cortex, sondern stärker über basalganglionäre Netzwerke wie das Putamen, was auf eine weniger kontrollierte, stärker automatisierte Verarbeitung von Vorhersagefehlern hinweist.

 

3.3 Pupillometrie, Augenbewegung, autonome Marker

Untersuchungen zeigen, dass autistische Kinder und Erwachsene stärkere Pupillenreaktionen auf Reizabweichungen zeigen, was auf erhöhte Sensitivität und Gain hinweist.10 Ebenso gibt es Hinweise auf erhöhte Herzfrequenzvariabilität, veränderte Hautleitfähigkeit oder andere körperliche Marker autonomer Reizverarbeitung. Manche Studien differenzieren auch zwischen Über- und Unterreaktion im Sinne von hypo- oder hyperresponsiver sensorischer Profile.11

 

3.4 Schmerz- und Wahrnehmungsschwellen

Eine aktuelle Studie (2025) nutzte quantitative sensorische Tests (QST) und kombinierte sie mit EEG-Messungen, um Reizschwellen und zentrale Reizverarbeitung bei Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum zu vergleichen.12 Sie fand, dass subjektive Schmerz- und Wahrnehmungsschwellen in Verbindung mit EEG-Signalen korrelieren, und verdeutlichte damit unser Verständnis der sensorischen Reaktivität über bloße Selbstauskünfte Betroffener hinaus.

 

3.5 Heterogenität und Subgruppen

Nicht alle Personen mit Autismus zeigen dasselbe sensorische Muster. Manche zeigen ausgeprägt hypersensitive Profile, andere kombinieren hypo- und hyperresponive Aspekte oder variieren stark mit Kontext, Alter und Komorbiditäten.13 Die verschiedenen Studienergebnisse deuten darauf hin, dass ein einheitlicher „Sensory-Autismus-Phänotyp“ zu simpel wäre.

4. Von Gehirn zu Erleben: Was heißt das jetzt für den Alltag?

4.1 Wahrnehmung als Überfülle

Viele Menschen im Autismus-Spektrum berichten, dass sie mehr Details gleichzeitig wahrnehmen: Hintergrundgeräusche, einzelne Schritte, Kleinstbewegungen, Texturveränderungen. Da Filter weniger zuverlässig sind, konkurrieren viele Reize um Aufmerksamkeit.

 

4.2 Langsame oder ausbleibende Gewöhnung

Ein Summen eines Kühlschranks, das andere kaum noch wahrnehmen, bleibt spürbar. Der Parfumgeruch, der ständige Hintergrundton, das leichte Vibrieren eines Lüfters, all das „geht nicht weg“. Diese permanente Präsenz erzeugt eine fortdauernde Belastung und Beanspruchung des Nervensystems.

 

4.3 Erregungszunahme, Stress und Erschöpfung

Wenn viele Reize mit hohem Gain einwandern, steigen das körperliche Erregungsniveau und der Stresslevel. In Alltagssituationen zeigt sich das in schneller Ermüdung, Gereiztheit, Überwältigung, Überforderungsgefühlen, innerer Unruhe und Anspannung oder dem Bedürfnis nach Rückzug. Ist das Nervensystem einer dauerhaften Überreizung ausgesetzt, droht ein autistischer Burnout.

 

4.4 Unsicherheit und Vorhersehbarkeitsbedürfnis

Da Vorhersagen weniger stabil und die Fehlergewichtung rigider sind, bleibt für ein autistisches Gehirn vieles unvorhersehbar, autistische Menschen sind auf eine gewisse Weise ständig „überrascht“. Das führt zu einem Bedürfnis nach Strukturen und Vorhersehbarkeit: Rituale, Routinen, Vorankündigungen, feste Abläufe, Pläne. Überraschungen und Änderungen wirken oft doppelt belastend.

 

4.5 Kompensation durch kognitive Strategien

Viele Autist:innen entwickeln unbewusst kompensatorische „Filterstrategien“: Sie setzen Regeln, ignorieren oder vermeiden bewusst bestimmte Reize, oder bauen Checklisten, um sensorische Überladung zu vermeiden. Solche Strategien erfordern jedoch erhebliche mentale Ressourcen (und die sind ja ohnehin schon knapp da anderweitig gefordert).

 

4.6 Rückzugs- und Vermeidungsverhalten

Wenn die Reizlast zu groß wird, ist Rückzug oft das effektivste Mittel. Soziale Situationen, laute Umgebungen oder wechselhafte Räume werden gemieden. Dies ist einerseits eine absolut notwendige Reizmanagementstrategie, führt andererseits aber zu Isolation, verminderten Teilhabechancen und oft einem inneren Dilemma: Einerseits Teilhabewunsch, andererseits Reizschutzbedürfnis.

5. Alltagsbereiche und beispielhafte Reizdomänen

Zum besseren Verständnis sind hier einige Beispiele, wie sich Unterschiede in der Reizverarbeitung in den verschiedenen Lebens- und Wahrnehmungsbereichen zeigen:

5.1 Auditive Reize (Geräusche, Stimmen, Hintergrundlärm)

Hintergrundgeräusche, Hall, mehrere Menschen gleichzeitig sprechen: das Gehirn muss diese konkurrierenden Quellen trennen. Für Autist:innen ist das oft viel schwieriger, besonders wenn Sprecher wechseln oder es Echoeffekte gibt.

5.2 Visuelle Reize (Hell-Dunkel-Wechsel, Lichtreflexionen, Bewegungen)

Blinkende Lichter, Monitore, Reflexionen, sich bewegende Objekte oder Menschen im Blickfeld (auch wenn sie keine direkte Bedeutung haben) können weiterhin Aufmerksamkeit ziehen. In visuellen Szenarien wie Supermärkten oder Straßenkreuzungen summieren sich solche Reize häufig.

 

5.3 Taktile Reize / Texturen

Kleidung, Materialübergänge, Gürtel, Taschenriemen, Temperaturunterschiede, Hautreizungen: das taktile System ist im Alltag ständig aktiv. Viele Autist:innen berichten, dass Stoffe plötzlich als scharf oder unangenehm empfunden werden, auch wenn sie objektiv weich erscheinen. Auch die Mundsensorik, also wie sich Speisen im Mund anfühlen, ist immer wieder ein belastendes Thema.

 

5.4 Geruch & Geschmack

Parfüms, Essensgerüche, Reinigungsmittel, Luftfeuchtigkeit: starke Empfindungen oder bestimmte Gerüche, die andere nur dezent wahrnehmen, können sehr störend wirken. Manche Menschen im Autismus-Spektrum reagieren stark auf Gerüche oder besitzen eine erhöhte Geschmacksempfindlichkeit.

 

5.5 Multisensorische Situationen & Übergangsmomente

Die größten Belastungen entstehen oft dort, wo Reize aus mehreren Kanälen zusammenkommen: ein Marktplatz, ein Schulpausenhof, ein Supermarkt, eine Party. Übergänge (z. B. Raumwechsel, Türen öffnen, Lichtwechsel) sind ebenfalls besonders kritisch. Hier müssen mehrere Vorhersagen und Anpassungen gleichzeitig passieren — und das System steht oft unter Stress.

6. Implikationen: Was heißt das praktisch?

Ohne zu sehr in Themen wie Energiemanagement vorzupreschen, lassen sich aus dem Verständnis von Reizverarbeitung bereits konkrete Hinweise für ein gesundes Reizmanagement und damit ein optimales Haushalten mit den eigenen Ressourcen ableiten:

6.1 Umgebungsdesign & Reizreduktion

  • Räume mit weniger visueller Ablenkung sind hilfreich: ruhige Wandfarben, gleichmäßige Beleuchtung, angenehme Lichtverläufe
  • Klangmanagement: schallschluckende Materialien, Geräuschmaskierung, akustische Dämpfung
  • Textur- und Materialwahl: weiche Stoffe, nahtarme Kleidung, flexible Materialien
  • Sinnesfreiräume schaffen: stille Ecken, sensorische Nischen, Optionen zur Reizreduktion (z. B. Kopfhörer, Sonnenbrillen)

6.2 Kontrollierte, graduelle Exposition & Trainings

Beim Reizstatistik-Training werden Reize (z. B. Geräusche, Lichtmuster) mit systematisch veränderter Häufigkeit oder Intensität präsentiert. Das Gehirn lernt dadurch, welche Reize stabil und welche zufällig sind, und kalibriert seine Vorhersagen präziser.

Beim Üben von Veränderungsvorhersagen geht es darum, kleine, vorhersehbare Reizänderungen anzukündigen oder kontrolliert einzuführen, damit das Gehirn lernt, dass nicht jede Abweichung bedrohlich oder unvorhersagbar ist.

Die Sensibilisierung für Multisensorik zielt darauf, verschiedene Sinneskanäle (z. B. Sehen und Hören) gezielt gemeinsam zu trainieren, um deren Integration zu verbessern und zeitlich besser abzustimmen.

 

Das Ziel dieser Interventionen ist keine Desensibilisierung, sondern eine Verbesserung der Reizfilterung und der Vorhersagefähigkeit des Gehirns, damit Reize weniger überwältigend wirken und die sensorische Welt stabiler und vorhersagbarer erscheint.

 

6.3 Assistive Hilfsmittel

  • Geräuschfilter (Noise-Cancelling-Kopfhörer)
  • Dimmbare Lichtquellen, Sonnenbrillen, Lichtfilter
  • Kleidung mit variablen Texturen, druckreduzierende Optionen
  • Raumplanung mit Reizprofilen, sensorischen Oasen

6.4 Frühzeitige Anpassung & Umweltgestaltung

Je früher in Umwelt (z. B. Schule, Arbeitsplatz) Reizsteuerungsprinzipien eingebracht werden, desto weniger muss das Individuum im Nachhinein kompensieren. Solche Anpassungen reduzieren Stress, schonen kognitive Ressourcen und verhindern chronische Überlastung.

7. Fazit: Die Welt durch andere Filter

Menschen im Autismus-Spektrum erleben oft eine sensorisch intensivere Welt, in der Filter weniger zuverlässig arbeiten, Vorhersagen instabiler sind und Reizabweichungen stärker gewichtet werden. Das Ergebnis ist ein konstant gefülltes Wahrnehmungsfeld mit permanenten Überraschungen, das fortwährende Aufmerksamkeit verlangt und zu Stress, Erschöpfung und Rückzug führen kann.

 

Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass es keine einheitliche Sensitivität gibt: Subtypen, Kompensation, Kontextabhängigkeit und individuelle Ressourcen spielen eine große Rolle.

 

Wenn wir diese Erkenntnisse nutzen, können wir Umgebungen gestalten, Trainings konzipieren und Hilfsmittel optimieren, um die Reizverarbeitung behutsam zu unterstützen, ohne Masking oder Überkompensation zu erzwingen.

 Quellen:

  1. Lawson, R. P., Rees, G., & Friston, K. J. (2014). An aberrant precision account of autism. Frontiers in Human Neuroscience, 8, 302. DOI: 10.3389/fnhum.2014.00302 ↩︎
  2. Sapey-Triomphe, L.-A., et al. (2023). Neural correlates of hierarchical predictive processes in autism and neurotypicals.
    Nature Communications, 14(1), 379. DOI: 10.1038/s41467-023-35987-9 ↩︎
  3. Cannon, J., Monaghan, J., & Pecenka, N. (2021). Prediction in Autism Spectrum Disorder: A Systematic Review. Frontiers in Neuroscience. DOI: 10.3389/fnins.2021.699741 ↩︎
  4. Aston-Jones, G., & Waterhouse, B. (2016). Locus coeruleus: From global projection system to adaptive regulation of behavior. Brain Research. DOI: 10.1016/j.brainres.2016.03.001 ↩︎
  5. Stevenson, R. A., et al. (2016). Multisensory temporal integration in autism spectrum disorders.
    Cerebral Cortex, 26(4), 1794–1806. DOI: 10.1093/cercor/bhv028 ↩︎
  6. Sapey-Triomphe, L.-A., et al. (2023). Disentangling sensory precision and prior expectation in autistic perception.
    npj Science of Learning, 8, 12. DOI: 10.1038/s41539-023-00186-w ↩︎
  7. Millin, R., et al. (2022). Habituation differences in autism: A systematic review and meta-analysis. Neuroscience & Biobehavioral Reviews. DOI: 10.1016/j.neubiorev.2022.104645 ↩︎
  8. Nicolardi, V., et al. (2025). Pain perception in autism: Integrating quantitative sensory testing and EEG. Frontiers in Neuroscience. DOI: 10.3389/fnins.2025.1438623 ↩︎
  9. Todorova, G. K., et al. (2024). Special treatment of prediction errors in autism spectrum disorder. Brain, 147(2), 365–379. DOI: 10.1093/brain/awad001 ↩︎
  10. Anderson, C. J., Colombo, J., & Shaddy, D. J. (2019). Pupillometry in autism spectrum disorder: A systematic review. Developmental Psychobiology. DOI: 10.1002/dev.21868 ↩︎
  11. Schoen, S. A., Miller, L. J., Brett-Green, B., & Nielsen, D. (2009). Physiological and behavioral differences in sensory processing: A comparison of children with autism spectrum disorder and typical development. Frontiers in Integrative Neuroscience, 3, 26. DOI: 10.3389/neuro.07.026.2009 ↩︎
  12. Tavassoli, T., & Baron-Cohen, S. (2020). The heterogeneity of sensory profiles in autism spectrum disorder: A systematic review. Autism Research. DOI: 10.1002/aur.2390 ↩︎
  13. Kirby, A. V., et al. (2019). Parent descriptions of sensory processing in autism spectrum disorder: A qualitative study. Autism, 23(6), 1515–1526. DOI: 10.1177/1362361319846554 ↩︎

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