Über Selbstannahme und neurodivergente Sichtbarkeit
Selbstablehnung und gesellschaftliche Realitäten
In unseren Social Media Kanälen zeigt sich, wie schwer es für viele neurodivergente Menschen und deren Angehörige ist, positive Aspekte an der eigenen Neurodivergenz zu erkennen. Reaktionen auf unser Motto „Wir feiern Neurodivergenz“ sind oft geprägt von Ablehnung und negativen Kommentaren. Viele äußern, sie wären lieber nicht neurodivergent und könnten darin nichts Gutes sehen – von „Feiern“ könne überhaupt keine Rede sein. Am liebsten wären sie neurotypisch. Diese Rückmeldungen zeigen schmerzhaft deutlich, wie massiv die gesellschaftliche Ablehnung im Alltag wirkt. Solche Reaktionen wurzeln häufig in jahrelanger Selbstentwertung und dem erlebten Druck, neurotypischen Normen entsprechen zu müssen.
Das ist kein individuelles Versagen. Es ist ein strukturelles Problem. Dazu kommen häufig fehlende Unterstützungsangebote, mangelndes Wissen in Bildung, Medizin und Beruf sowie Missverständnisse in Familien und Gemeinschaften. Die Folge sind oft tiefsitzende Selbstzweifel und das Gefühl, nicht richtig zu sein.
Der Weg zur Selbstannahme und warum das nicht nur für dich persönlich wichtig ist.
Hier gilt: Niemand muss sich „feiern“. Aber es ist elementar, der Realität der Selbstablehnung ehrlich ins Auge zu sehen und sich Zeit für den Prozess der Selbstannahme zu nehmen. Selbstannahme ist oft der schwierigste, aber zugleich wichtigste Schritt, um sich selbst fürsorglich begegnen zu können. Erst wer sich selbst akzeptiert, schafft eine Basis, um mutig, sichtbar und authentisch zu leben und gemeinsame Veränderung einzuleiten.
Selbstannahme bedeutet, sich zu erlauben, als neurodivergenter Mensch okay zu sein – auch wenn die Gesellschaft oft anderes vermittelt. Sie ist Grundlage für Selbstfürsorge und den Aufbau innerer Ressourcen, um Herausforderungen zu begegnen. Niemand muss dabei sofort alles positiv sehen, aber ein liebevoller Umgang mit sich selbst öffnet Türen für Entwicklung und Teilhabe.
Strukturelle Probleme
Neurodivergente Menschen werden in Deutschland systematisch und auf vielen verschiedenen Ebenen benachteiligt1. Unglaublich viel Leid entsteht, weil Neurodivergenz weder im Bildungssystem noch im Berufsleben berücksichtigt wird2. Im medizinischen und psychotherapeutischen Versorgungssystem fehlt elementares Grundwissen rund um neurodivergente Strukturen (und das, obwohl die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorhanden und für jeden Interessierten nachlesbar sind!), sodass neurodivergente Menschen übersehen, fehldiagnostiziert und gar nicht oder fehlbehandelt werden3.
Gesamtgesellschaftlich herrscht nach wie vor ein hohes Unverständnis gegenüber Andersartigkeit und ein starker Anpassungsdruck, der Schuld und Scham bei all den Menschen hervorruft, die vom neurotypischen Narrativ abweichen4. Das dadurch ausgelöste, teilweise immense Leid der Betroffenen und Angehörigen passiert im Stillen, weitgehend unregistriert durch die Gesellschaft.
Die systematische Benachteiligung, Invalidierung und Nicht- oder Fehlbehandlung führen an vielen Stellen zu schweren Komorbiditäten, zum Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt und damit auch zu immensen gesamtgesellschaftlichen Kosten5. Es wird Zeit, dass wir das besser machen!
Was sich ändern muss
Wir brauchen, dass neurodivergente Menschen möglichst früh in ihrer neuronalen Verarbeitungs-Struktur erkannt und diagnostiziert sowie entsprechend ihrem Neuroprofil unterstützt und gefördert werden. Wir brauchen, dass die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ADHS, Autismus und Co. an den Unis in ausreichendem Umfang gelehrt und in der fachärztlichen sowie psychotherapeutischen Weiterbildung vertieft werden.
Wir brauchen eine Gesellschaft, in der Neurodiversität gelebt wird, in der neurodivergente Menschen sichtbar sind und auf Toleranz, Offenheit und Wertschätzung stoßen. In der Anpassungen an neurodivergente Bedürfnisse keine major inconvenience, sondern eine gelebte Selbstverständlichkeit sind und jeder Mensch selbstfürsorglich Reizmanagement betreiben kann, ohne dafür negativ bewertet zu werden. Wir brauchen neuroaffirmative Lernumgebungen in den Schulen und bedürfnisorientierte Anpassungen im beruflichen Alltag. Vor allem brauchen wir Sichtbarkeit.
Unser Ansatz zu mehr Sichtbarkeit
Diese dringend notwendigen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen werden sich nicht von selbst einstellen. Die Geschichte zeigt leider, dass es für Veränderung immer einen Impuls braucht, eine Unbequemlichkeit, eine Schmerzpunkt. So langsam rührt sich auch in Deutschland etwas: Betroffeneninitiativen sprießen aus dem Boden, Neurodivergente Betroffene, Angehörige und Fachpersonen vernetzen sich, tauschen sich aus, formulieren Forderungen an Politik und Gesellschaft.
Wir möchten mit NEURODINGE unseren Teil zu dieser Veränderungsbewegung beitragen. Auf unserer Webseite klären wir auf, vermitteln verständlich Grundwissen rund um Neurodivergenz, erlauben Einblicke in aktuelle Missstände und persönliche Erfahrungen mit Autismus und ADHS und helfen dir, dich selbst zum Thema weiterzuentwickeln.
Unser allerwichtigstes Ziel und der Grundgedanke hinter dem Projekt NEURODINGE ist es jedoch, die Sichtbarkeit neurodivergenter Menschen zu erhöhen. Dieses Anliegen ist sehr eng mit dem Ziel verbunden, Schuld, Scham und internalisierten Ableismus abzubauen. Denn nur wer sich selbst annehmen kann, kann auch mutig sein und sich authentisch zeigen.
Wir möchten also ganz explizit dein Wachstum unterstützen – deinen Weg zu Selbstakzeptanz und einem selbstfürsorglichen, bedürfnisorientierten Leben. Damit du die Ressourcen und die innere Haltung hast, mit vielen anderen Betroffenen zusammen sichtbar, laut und mutig zu werden und gemeinsam für eine bessere, neuroaffirmative Gesellschaft einzutreten.
Wir sind viele. Und wir sind anders. Und anders sein ist voll okay!
Wie es um deine eigene Selbstannahme steht, kannst du ganz einfach testen: Gelingt es dir ohne große Überwindung mit überzeugter Stimme zu sagen:
„Ich bin gut genug!“, oder
„Ich bin wertvoll!“
Probier es einfach mal aus. 🙂
Ist diese Übung easy für dich? Super, du bist fit für unsere Mission und ein stolzes Neurodivergänschen.
Fällt es dir noch sehr schwer, selbstbewusst zu äußern, dass du gut genug bist? Das ist okay, du kommst da hin! Vielleicht können wir dich auf deinem Weg begleiten und unterstützen, das würde uns sehr freuen. 🙂
Quellen
- Frank, A., & Heinitz, K. (2018). Education and employment status of adults with autism spectrum disorders in Germany – A cross-sectional survey. BMC Psychiatry, 18, 75. https://doi.org/10.1186/s12888‑018‑1645‑7 ↩︎
- Maslahati, T., Heiss, S., Schützwohl, M., & Schuwerk, T. (2022). How do adults with autism spectrum disorder participate in the German labour market? Journal of Autism and Developmental Disorders, 52, 3933–3946. https://doi.org/10.1007/s10803-021-05008-6 ↩︎
- Riedel, L., Straube, B., Wacker, R., & Dziobek, I. (2023). Barriers and needs in mental healthcare of adults with autism spectrum disorder in Germany: A qualitative study in autistic adults, relatives and healthcare providers. Frontiers in Psychiatry, 14, 1131936. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2023.1131936 ↩︎
- Zerbo, O., Klinger, L., Burton, C., & Dziobek, I. (2020). Internalised stigma in adults with autism: A German multi-centre survey. Journal of Autism and Developmental Disorders, 50, 1916–1928. https://doi.org/10.1007/s10803-019-03938-3 ↩︎
- Kästner, D., Dziobek, I., Wacker, R., & Straube, B. (2022). Alarmingly large unemployment gap despite of above‐average level of education: Findings from a German study of adults with autism spectrum disorder. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 272, 73–82. https://doi.org/10.1007/s00406-022-01424-6 ↩︎


