Unmasking - Was es bedeutet, sich wieder selbst zu zeigen
Viele autistische Menschen, die erst im Erwachsenenalter eine Diagnose erhalten, stoßen bei ihren Recherchen schnell auf den Begriff Masking und von dort ist es zum „Unmasking“ gar nicht mehr weit. Einen ausführlichen Beitrag zum Thema Masking findest du hier.
Unmasking beschreibt den Prozess, schrittweise jene Verhaltensweisen abzulegen, die über Jahre (oft unbewusst) zur sozialen Anpassung an neurotypische Erwartungen entwickelt wurden. Diese sogenannten Masken sollen schützen, funktionieren aber oft auf Kosten der eigenen Gesundheit und Identität.
Uns ist bisher kein richtig schönes deutsches Wort für Unmasking begegnet, deshalb verwenden wir auch hier den englischen Begriff und parallel dazu den Begriff Sichtbarwerdung, um den Fokus von Defizit auf Entwicklung, von Rückzug auf Präsenz zu verschieben.

Was bedeutet Unmasking im Kontext mit Autismus konkret?
Warum ist es so herausfordernd, die Maske abzulegen?
Der Prozess des Entmaskierens bringt häufig existenzielle Fragen mit sich: Wer bin ich denn eigentlich ohne Maske? Was ist meine Identität, wenn ich aufhöre, all die verschiedenen Rollen zu spielen? Was passiert, wenn ich mich zeige, wie ich bin? Werde ich dann noch akzeptiert oder erfahre ich Ablehnung? Für viele ist das Thema ambivalent:
Vorteile:
- Selbstannahme!
- Weniger psychische und körperliche Erschöpfung
- Verbessertes Bewusstsein über die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen
- Authentischere Beziehungen
Risiken:
- Soziale Missverständnisse, Stigmatisierung oder Ablehnung
- möglicher Verlust von Beziehungen oder beruflichen Sicherheiten
- Emotionale Verunsicherung, besonders zu Beginn
Abwägung:
Unmasking ist kein Allheilmittel und nichts, was du nach deiner Diagnose auf Biegen und Brechen sofort radikal und in allen Umgebungen umsetzen musst. Die Entwicklung der eigenen autistischen Identität braucht Kontext, Schutz und Spielraum. Du darfst entscheiden, wann und wie du dich zeigen willst: situativ, Schritt für Schritt, selektiv.
Schon der Schritt, offen mit deiner Autismus-Diagnose umzugehen, ist ein Akt der Sichtbarwerdung und ein erster wichtiger Ansatz, um diesen fundamentalen Aspekt deiner Identität nicht mehr zu verbergen. Du sprichst eine Wahrheit aus, die lange unsichtbar sein sollte, verschwiegen wurde. Viele erleben dabei Scham, nicht aus sich heraus, sondern aus internalisiertem Ableismus.
Scham ist normal - und gehört in die Tonne
Die Vorstellung, „kaputt“ zu sein, weil man autistisch ist oder auf eine andere Art von der Neuronorm abweicht, ist erlernt. Unsere Gesellschaft vermittelt subtil (und oft offen), dass Behinderung den Wert eines Menschen mindert. Diese Narrative sind falsch und sie gehören sehr (!) kritisch hinterfragt. Sichtbarwerden bedeutet auch, dieser Scham Sprache entgegenzusetzen. Zu sagen: Ich bin autistisch. Und das schmälert meinen Wert kein bisschen.
Du bist unglaublich wertvoll, ganz egal und völlig unabhängig davon, ob du neurodivergent bist oder nicht. Eine Autismusdiagnose beschreibt dein Erleben, sie definiert nicht deinen Wert!
Erste Unmasking Schritte
Hier sind ein paar Ideen für erste kleine Maßnahmen, die du umsetzen kannst:
- Hör‘ auf, dich für dein Bedürfnis nach Ruhe zu rechtfertigen.
- Nutze Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Sonnenbrillen zum Reizmanagement ein – auch dort, wo das eventuell auffallen könne.
- Sag „Ich kann nicht“, statt dich zu etwas zu zwingen, was dich viel Energie kostet.
- Gib Bewegungs- und Stimmingimpulsen nach, wenn es dir hilft.
- Verwende deine eigenen Worte, die deine Realität beschreiben, auch wenn andere sie nicht kennen oder deine Ausdrucksweise ungewöhnlich finden.
- Frag in sozialen Kontexten nach, wenn du etwas nicht verstehst oder wenn du nicht sicher bist, wie du eine Aussage interpretieren sollst.
Was sich im Alltag möglicherweise verändert
Deine Sichtbarwerdung zeigt sich oft zuerst in kleinen, scheinbar unbedeutenden Verhaltensänderungen. Es sind Momente, in denen du dich nicht länger gegen dich selbst richtest, sondern beginnst, dich ernst zu nehmen.
Vielleicht reduzierst du mit der Zeit deinen Blickkontakt, sprichst direkter, lässt Smalltalk weg. Deine Körpersprache verändert sich womöglich: Stimming wird natürlicher, deine Stimme freier. Du achtest auf Reize, gönnst dir Pausen, nutzt Hilfsmittel wie Noise-Cancelling-Kopfhörer. Du ziehst dich zurück, wo es nötig ist, sagst nein, setzt klarere Grenzen. Und du spürst langsam den Unterschied zwischen dem, was du bist, und dem, was du dir antrainiert hast, um nicht aufzufallen.
Das sind keine banalen Veränderungen. Es sind Schritte der Rückverbindung mit dir selbst. Schon diese Details zeigen: Hier ist ein Mensch, der sich erlaubt, er selbst zu sein.
Kann man zurück hinter die Maske?
Der Mythos „Fähigkeitenverlust“
Viele berichten von einem Gefühl, nach einer Weile im Unmasking-Modus, weniger zu „können“, Fähigkeiten zu verlieren oder nicht mehr in der zu Lage zu sein, sich neurotypisch zu verhalten (Englisch: „skill regression“). Dies wird nicht unbedingt als tatsächlicher Verlust von Fähigkeiten angesehen, sondern eher als eine Folge von Erschöpfung oder Burnout, die die Fähigkeit beeinträchtigt, diese Aktivitäten wie zuvor auszuüben.
Wir gehen davon aus, dass zuvor erlernte Fähigkeiten nicht tatsächlich verloren gehen. Wenn sie das tun, ist das eine Schutzfunktion in einer ansonsten überfordernden Situation und in aller Regel kommen sie wieder, sobald wieder etwas Kapazitäten frei geworden sind. Eine skill regression sollte ernstgenommen und als Signal, sich weitere Schutzräume zu eröffnen und sich authentisches Sein zu ermöglichen, gedeutet werden.
Gesellschaftliche Verantwortung und Fazit
Unmasking ist nie nur eine individuelle Entscheidung. Es ist immer auch ein Spiegel der Strukturen, in denen du dich bewegst. Du kannst dich nur dann zeigen, wenn dein Umfeld dir Sicherheit gibt. Diese Sicherheit ist ungleich verteilt – und muss leider an vielen Orten erkämpft werden.
Barrierefreiheit bedeutet auch: Menschen müssen nicht maskieren, um anerkannt zu werden. Sichtbarwerdung braucht Räume, in denen man nicht erklären, beweisen oder relativieren muss. Es kann sein, dass du dir diese Räume erst schaffen musst.
Unmasking heißt, dich Schritt für Schritt aus einer Anpassungsleistung zu lösen, die dich lange geschützt und gleichzeitig erschöpft hat. Es ist keine Heldengeschichte, sondern eine Praxis: mutig, widersprüchlich, angstmachend, befreiend und auch heilsam. Gib dir Zeit, sei nachsichtig und freundlich mit dir selbst, geh deinen Weg Schritt für Schritt und in deinem Tempo.
Eine richtig gute 7-Punkte-Anleitung zum Unmasking findest du (aktuell leider nur auf Englisch) hier:
Seven Steps to Unmasking as a Neurodivergent Person
Dieser Artikel von Dr. Lee bietet einen gut strukturierten Einstieg in das Thema Sichtbarwerdung. In sieben Schritten zeigt sie, wie man sein eigenes Tempo findet, Verhaltensmuster in sicheren Kontexten beobachtet und sich nach und nach von internalisierten Normen lösen kann.