Energiemanagement bei Autismus, ADHS und AuDHS
1. Energie als limitierte Ressource
Viele neurodivergente Menschen erleben Energie nicht als im Überfluss vorhandene Ressource, sondern als limitierte, manchmal sogar kaum vorhandene Modalität. Gerade bei Autismus oder AuDHS ist Energie eine Art innerer Grundstoff, der ständig in erhöhtem Ausmaß verbraucht wird: durch Reize, Anforderungen, Erwartungen, soziale Interaktionen, Entscheidungen.
Das liegt unter anderem an der besonderen Reizverarbeitung, über die du dich im Reizverarbeitungsbeitrag informieren kannst. Energiemanagement ist für neurodivergente Menschen ein wichtiges Thema und heißt in diesem Fall nicht, „noch mehr zu schaffen“, sondern überhaupt bei sich zu bleiben.
In diesem Beitrag erfährst du:
- Was der Begriff Energie überhaupt bedeutet,
- was im neurodivergenten Alltag Energie kostet (sichtbar und unsichtbar),
- welche Strategien helfen können, Energie zu sparen oder bewusst zu nutzen,
- warum viele Tools nicht funktionieren und was stattdessen hilft und
- wie du Energiemanagement als Akt der Selbstachtung etablieren kannst.
1.1 Was ist „Energie“ überhaupt?
Energie ist in diesem Zusammenhang kein messbarer biologischer Wert wie Kalorien oder Blutzucker, sondern ein subjektives Empfinden von mentaler, emotionaler und körperlicher Verfügbarkeit und Teilhabemöglichkeit. Manche beschreiben sie als Akku, andere als Löffel (vgl. Spoon Theory), wieder andere als Wellen oder Kontingente. Wichtig: Es geht nicht um „Bequemlichkeit“ oder „Motivation“, sondern um tatsächliche Belastbarkeit.
Neurowissenschaftlich gibt es Hinweise, dass die neuronale „Energieverteilung“ bei Autismus anders funktioniert: Studien zeigen eine veränderte Signalverarbeitung in peripheren Hirnnetzwerken, was möglicherweise erklärt, warum alltägliche Reize und Anforderungen schneller überfordern können1.
Zudem werden bei Neurodivergenz verschiedene „Energieverbraucher“ gleichzeitig aktiv: Aufmerksamkeitslenkung, Reizfilterung, Impulskontrolle sowie soziale Anpassung (Masking) laufen parallel und fordern Ressourcen, auch wenn äußerlich „nichts passiert“.
2. Was raubt Energie im Alltag mit Autismus oder AuDHS? Und warum?
Viele neurodivergente Menschen berichten, dass scheinbar kleine Alltagssituationen überproportional viel Kraft kosten. Doch das ist kein subjektiver „Fehler“ und auch kein „Sich-anstellen“, sondern ein Ergebnis tiefgreifender neurologischer Unterschiede. Hintergründe hierzu findest du im Beitrag Reizverarbeitung.
- Reize: Geräusche, Gerüche, Licht, Berührungen, Temperaturunterschiede: das autistische Nervensystem filtert Informationen anders2. Reize werden oft ungefiltert, intensiver oder fragmentiert wahrgenommen. Das bedeutet ständige sensorische Analyse, Bewertung und Bewältigung und führt zu einem permanenten, unbewussten und nicht steuerbaren Energieabfluss.
- Soziales: Kommunikation erfordert nicht nur Worte, sondern Mimik, Tonfall, implizite Bedeutungen, Smalltalk-Regeln, Körpersprache. Autistische Menschen verarbeiten soziale Informationen oft bewusster, langsamer oder analytischer und brauchen dafür mehr kognitive Ressourcen. Auch die ständige Unsicherheit („War das okay?“) verbraucht Energie.
- Masking & Anpassung: Viele neurodivergente Menschen haben gelernt, ihre natürlichen Reaktionen (z. B. Stimming Impulse) zu unterdrücken, um „funktional“ oder „unauffällig“ zu wirken. Dieses sogenannte Masking ist ein komplexer kognitiver und regulativer Akt, vergleichbar mit dauerhafter Schauspielerei unter Stress3.
- Exekutive Funktionen: Diese umfassen Fähigkeiten wie Planung, Impulskontrolle, Arbeitsgedächtnis, Priorisierung. Bei ADHS (und oft auch bei Autismus) sind diese Funktionen beeinträchtigt4. Das bedeutet: Alltagsentscheidungen, Routinen oder To-dos benötigen mehr bewusste Steuerung und zum Teil komplexe Kompensationsstrategien und damit auch mehr Energie. Anfangen, Prokrastinieren, Entscheidungen treffen und Aufgaben des Alltags bewältigen gehören hierzu.
- Übergänge, Wechsel & Mikroentscheidungen: Von einer Aufgabe zur nächsten wechseln, Entscheidungen treffen („Was esse ich?“, „Was ziehe ich an?“), den Tag strukturieren, all das kostet exekutive Kapazität. Bei neurodivergenten Menschen kann allein diese ständige Notwendigkeit zur Selbststrukturierung chronisch ermüden.
- Hyperfokus: Die intensive Vertiefung in ein Thema fühlt sich häufig gut an und kann sehr produktiv sein, allerdings werden körperliche Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlaf, Toilettengänge) mitunter vergessen oder vernachlässigt. Eine gute und regelmäßige Versorgung des Körpers ist aber zwingend notwendig, um Energie für die verschiedenen Anforderungen zu haben.
- Hintergrundprozesse: Auch wenn nichts „passiert“, läuft oft viel: Monitoring, Selbstbeobachtung, Verarbeitung sozialer Erlebnisse, Grübelschleifen, Reizvermeidung, Unsicherheiten. Diese stillen, aber daueraktiven Prozesse verbrauchen Energie, die nicht „sichtbar“ ist, aber am Ende für andere Aktivitäten fehlt.
„Ich bin morgens schon erschöpft, bevor der Tag anfängt.“
Diese Aussage ist für viele neurodivergente Menschen keine Metapher, sondern Realität.
3. Wie Energiemanagement funktionieren kann: Strategien und Tools
Aus den genannten Gründen ist es für Menschen mit Autismus, ADHS oder AuDHS ganz besonders wichtig, ihre Energielevel gut im Blick zu haben und ihren Energiehaushalt aktiv zu managen. Hierfür gibt es ein paar hilfreiche Strategien.
Nicht jede Strategie funktioniert für alle – und nicht jeden Tag gleich. Energiemanagement ist kein starres System, sondern ein flexibles Zusammenspiel aus Selbstwahrnehmung, Umweltanpassung und Priorisierung. Wichtig ist nicht, möglichst viele Methoden zu nutzen, sondern die wenigen, die für dich gerade stimmig sind.
Hier findest du eine Auswahl an Ansätzen, die sich in Praxis, Community und Beratung bewährt haben.
- Pacing statt Pushen: Pacing bedeutet, die eigenen Aktivitäten so zu steuern und zu dosieren, dass Überlastung vermieden und Energie gezielt erhalten bleibt – durch frühzeitige Pausen, realistische Planung und bewusste Selbstregulation. Das bedeutet: nicht dann Pausen machen, wenn nichts mehr geht, sondern regelmäßig und aktiv und lange, bevor es kritisch wird.
- Energie-Tagebuch: Ein Energietagebuch ist ein einfaches Tool, um täglich zu beobachten und zu notieren, welche Aktivitäten Energie kosten oder geben mit dem Ziel, Muster zu erkennen und den Alltag besser an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.
- Spoon Theory & Co.: Visualisiere deinen Energiehaushalt in Bildern: Löffel, Farben, Batterien. Was ist heute drin? Wie viel Energie hast du? Welche Aktivität verbraucht was? Was geht, was nicht?
- Ampel-Check-ins: Eine einfache Methode zur Selbstwahrnehmung, bei der du deinen aktuellen Energie- oder Belastungszustand regelmäßig mithilfe der Farben Grün (es geht gut), Gelb (es wird kritisch) und Rot (Stopp, Rückzug nötig) einschätzt. So kannst du rechtzeitig reagieren, bevor Überforderung entsteht.
- Reizreduktion: Noise-Cancelling, Sonnenbrille, Kleidung ohne Etikett, gedämpftes Licht. Energiesparen beginnt bei den Reizen.
- Ritualisierung: Ritualisierung bedeutet, wiederkehrende Abläufe bewusst zu vereinfachen und zu automatisieren, z. B. durch feste Routinen oder gleichbleibende Entscheidungen. Je weniger spontane Entscheidungen getroffen werden müssen, desto mehr Energie bleibt. Immer dasselbe Frühstück? Go for it.
- Flexible Planung: Statt „9 Uhr: Aufgabe X“ eher: „Vormittag: eine Sache, die mental mittel anstrengend ist“. Plane mit Energie, nicht mit Uhrzeit.
- Selbstschutz: Nein sagen, Absagen, nicht reagieren müssen. Erklärungen sind nett, aber kein Muss. Du darfst dich und deine Bedürfnisse priorisieren.
4. Wenn der Plan scheitert: Warum Selbstschutz wichtiger ist als Selbstoptimierung
Viele Tools wirken nur dann, wenn man noch genug Energie hat, sie zu benutzen. Oft kippt das System: Am Montag diszipliniert geplant, am Donnerstag völlig entgleist. Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, sozialer Rückzug. Du kannst dich darüber ärgern, aber im Zweifel kostet dich das nur noch mehr Energie, ohne dass es dir was nutzt. Besser ist es, die Realität anzunehmen, statt dagegen anzukämpfen: Es war zu viel, zu lang, zu schnell.
Diese Erfahrungen bieten eine gute Gelegenheit, Selbstmitgefühl zu üben. Du darfst nicht können! Rückzug vorbereiten, nicht improvisieren. Auszeiten als Teil des Plans betrachten, nicht als Ausnahme. Achte auf deine „unsichtbaren Energieverluste“ (Hintergrundprozesse, soziale Schuld, innere Dialoge).
„Manchmal ist Energiemanagement nicht, wie viel ich schaffe, sondern was ich lasse.“
Viele neurodivergente Menschen erleben Scheitern nicht als „Fehler“, sondern als Bedrohung der Selbstwirksamkeit. Besonders bei ADHS und Autismus kann das wiederholte „Nicht-schaffen“ zu erlernter Hilflosigkeit führen – der Glaube, dass es „egal ist, was ich versuche“. Und natürlich ist es auch unendlich frustrierend, immer wieder die Erfahrung zu machen, dass man selbst nach bestimmten Aktivitäten sehr erschöpft ist und eine Pause braucht, während Andere danach noch unbeschwert weitermachen können. Die Enttäuschung darüber ist legitim. Der Umgang mit diesen individuellen Unterschieden braucht jedoch nicht Härte – sondern (Selbst-)Mitgefühl und kluge, flexible Strukturen.
5. Was hilft, wenn nichts hilft?
Manchmal hilft kein Plan. Dann ist das Ziel: durchkommen. In solchen Phasen geht es nicht um Wachstum, sondern um Stabilität. Nicht um Effizienz, sondern um Selbstschutz. Wichtig ist, dass du diese Zeiten nicht als „Rückschritt“ oder „Versagen“ bewertest. Sie sind ein Teil deiner Realität und du verdienst währenddessen Fürsorge und Nachsicht.
Was du tun kannst:
- Sensorische Mikro-Räume schaffen: Ein sicherer Ort, in dem dein Nervensystem zur Ruhe kommen darf. Das kann ein dunkler Raum sein, eine schwere Decke, ein vertrauter Duft, ein Kleidungsstück mit angenehmer Textur. Es geht um Reizminimierung und Regulation durch sensorisches Wohlgefühl.
- Kontaktpausen einlegen: Kommunikation ist anstrengend, selbst mit lieben Menschen. Schaffe bewusste Pausen: Flugmodus, Autoresponder, keine Verpflichtung zum Antworten. Du darfst dich kurz einigeln, um dich zu schützen und Kraft zu tanken.
- Minimalismus im Denken: Wenn alles zu viel ist, reduziere auf das Wesentliche. „Ich atme. Ich trinke Wasser. Ich esse einen Snack. Ich bin noch da.“ Mehr muss es heute nicht sein.
- Sanfte Bewegung zulassen: Nicht als Fitness oder Aufgabe, sondern als Regulation: Schaukeln, Wiegen, langsames Gehen, Dehnen. Die Bewegung darf beruhigend sein.
- Professionelle Begleitung nutzen: Du musst das nicht allein bewältigen. Wenn möglich, nutze Unterstützung: von Therapeut:innen, Coachings oder Peer-Begleitung – idealerweise mit neurodivergenzsensibler Ausrichtung. Das ist keine Schwäche, sondern Selbstfürsorge.
Diese Schritte der Reduktion und Selbstfürsorge zeigen nicht, dass du gescheitert bist. Sie zeigen, dass du auf dich hörst.
6. Fazit: Energiemanagement ist Selbstachtung, kein Luxus
Energiemanagement ist kein überflüssiges Extra. Es ist eine Form von Selbstführung, die deine neurodivergente Realität berücksichtigt und ernst nimmt. Du musst nicht effizienter/besser/toller werden. Du darfst dich priorisieren und schützen.
Neuroaffirmatives Energiemanagement ist eine neurodivergenzgerechte Form von Alltagsethik. Wenn du beginnst, deine Energie ernst- und anzunehmen, veränderst du nicht nur dein Verhalten, sondern auch deine Beziehung zu dir selbst.
Und: Du musst das nicht allein tun. Hier findest du Tools, Begleitung und Community.
Vielleicht ist dieser Beitrag nicht die Antwort auf alles. Aber vielleicht ist er ein Anfang.
Dein Wert liegt nicht in dem, was du leistest. Sondern darin, dass du bist.
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Quellen
- Gupta, A. (2019). Heat kernels with functional connectomes reveal atypical energy transport in peripheral subnetworks in autism [Preprint]. ArXiv. https://doi.org/10.48550/arXiv.1908.09117 ↩︎
- Robertson, C. E., & Baron-Cohen, S. (2017). Sensory perception in autism. Nature Reviews Neuroscience, 18(11), 671–684. https://doi.org/10.1038/nrn.2017.112 ↩︎
- Hull, L. et al. (2017). „Putting on My Best Normal“: Social Camouflaging in Adults with Autism Spectrum Conditions. Journal of Autism and Developmental Disorders, 47(8), 2519–2534. https://doi.org/10.1007/s10803-017-3166-5 ↩︎
- Barkley, R. A. (2010). Deficient emotional self-regulation: A core component of attention-deficit/hyperactivity disorder. Journal of ADHD and Related Disorders, 1(1), 5–37. ↩︎



