Masking und Identität- ein verzerrtes Bild
Die Maske als Schutz und Falle zugleich
Masking wird nicht nur individuell praktiziert, sondern gesellschaftlich belohnt und eingefordert. Es geht hierbei nicht lediglich um bloßes „verstellen“. Sondern darum, sozial erwünschtes Verhalten zu erlernen- und dabei neurodivergente Eigenschaften zu unterdrücken, verstecken und kompensieren.
Eine Überlebensstrategie und der Versuch, irgendwie in der auf neurotypische Menschen ausgelegten Welt zu „funktionieren“- mit gravierenden individuellen, sozialen und strukturellen Auswirkungen.
Der Preis- individuell und gesamtgesellschaftlich
Diese konstante kognitive Anstrengung kostet unglaublich viel Energie und Ressourcen und führt nicht selten zu chronischer Erschöpfung und Burn-out.
Zudem hat Masking gravierende Auswirkungen auf die eigene Identität und Identitätsfindung.
Wenn ich mich mein ganzes Leben lang verstelle und versuche „diese andere Sprache“ zu lernen, analysiere, kompensiere, imitiere und Rollen einnehme- wie soll ich dann wissen, wer ich hinter der Fassade bin?
Und: Wie soll mein Umfeld wissen, wer ich wirklich bin? Worin meine Werte, Stärken und Herausforderungen liegen?
Zwischen Wunsch nach Sichtbarkeit und Angst vor Konsequenzen
Ich bin inzwischen fast 25 Jahre alt und weiß erst seit einem Dreiviertel Jahr, dass ich neurodivergent bin. Außer mir und meiner Therapeutin wissen es meine Eltern, mein Bruder und die Menschen aus meinem letzten Klinikaufenthalt.
Nicht aber meine geliebte „Babyfreundin“ (wir kennen uns, seitdem wir Babys sind), meine beste Freundin, meine Oma, meine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen- niemand. Und all diese Menschen kennen- oder „kennen“- mich mein ganzes Leben lang.
Aus all den Jahren ausgeprägten Maskierungsverhaltens ergibt sich ein verzerrtes Bild, das es mir nun als diagnostizierte Autistin mit ADHS enorm erschwert, authentisch zu sein und Unmasking zu üben.
Dabei ist es mir so wichtig, dass Neurodivergenz sichtbar und Teil unserer Gesellschaft wird! Ich möchte, dass wir alle zu uns stehen können und dürfen, unsere eigene Identität entwickeln und entfalten dürfen und Masking keine Überlebensstrategie mehr sein muss.
Aktiv setze ich mich dafür ein- mit neurodinge.de.
Aber bei mir selbst?- Schisser.
Was passiert, wenn Menschen aus meinem Bekanntenkreis auf diese Seite stoßen?
Was passiert, wenn ich draußen jemanden treffe und meine Kopfhörer trage? Vielleicht noch Eines meiner schönen Shirts mit der Aufschrift „Embrace Neurodiversity“ oder „Cure Society- not Autism“ trage?
Wie werde ich mit dieser gesellschaftlichen Verzerrung umgehen und was wird es mit meinem eigenen Selbstbild und meiner erlebten inneren Realität machen?
Masking als soziale Norm- das gesellschaftlich gewünschte Ich
Funktional, immer fröhlich, ruhig, unkompliziert, brav, sozial integriert und einfach „normal“. Dabei noch eine herausstechende Eigenschaft, z.B. lustig und humorvoll, aber nicht zu laut und überdreht. Intelligent, aber kein Klugscheißer. Organisiert, produktiv und erfolgreich in Schule, Studium und Beruf. Viele Freunde, eine heterosexuelle Beziehung und einen „ganz normalen“ Lebenslauf.
Jahrelang habe ich versucht, dem entgegenzustreben. Das meiste hab ich verkackt.
"Ich bin Marlene!!!"- und wann habe ich das vergessen?
Seit wann bestimmt Masking meine Identität? Das war nicht immer so.
Als kleines Kind, wusste ich genau, wer ich war. Mit zweieinhalb Jahren war ich an Fasching als Elefant verkleidet und als mich jemand dann mit „Na du kleiner Elefant“ ansprach, reagierte ich erbost: „Bin nicht Elefant! Ich bin Marlene!!!“
Ich war selbstbewusst, habe mir meinen Freiraum eingefordert und meinen Bruder mit „Geh raus! Geh Pipi machen!“ aus meinem Zimmer geworfen.
Meine Impulse habe ich nicht unterdrückt. Wenn das Bobbycar streikte, trat ich wütend dagegengetreten und beschimpfte es.
Angefangen hat es vermutlich, als ich in den Kindergarten kam und erstmals umgeben von Gleichaltrigen war. Erstmals spürte ich meine Andersartigkeit dachte, ich sei dumm- weil ich so wenig von all dem verstand, was dort passierte.
Auf einmal haben Menschen beschlossen, ich sollte lieber malen und basteln, statt immer nur alleine draußen mit Erde zu matschen oder auf Klettergerüsten herum zu turnen- und wieder herunter zu fallen. Ich sollte nicht den ganzen Tag auf dem Schoß einer Erzieherin sitzen, sondern mit anderen Kindern spielen.
Ich wurde zu dem ruhigen und braven Kind, das alles irgendwie anstandslos mitzumachen schien und unkompliziert war. „Die merkst du ja kaum“, hieß es oft.
Im Kindergarten hat das noch funktioniert. Stets an meiner Seite: Mein Lieblingskuscheltier, die Katzi- emotionaler Supporter und Überlebenshelfer.
Die Rollen meines Lebens- mehr als nur ein Doppelleben
„In some ways your just like all your friends- But on stage you´re a star“
Ja, so in etwa habe ich mir das mit Neun auch gewünscht. Schön wär´s.
Die Realität: Ich war nie wie die Anderen. Und auch nie ein Star.
In der Schule wurde es komplizierter mit dem Aufrechterhalten meiner Rolle. Zu Hause war ich noch die Kleine, aber dort fing ich an, zu sehr zu kompensieren und übermäßig zu maskieren. Entweder war ich dabei total laut, quirlig, wild und crazy- oder wieder unsicher und ruhig.
Ich wusste, dass ich nicht so bin, wie die Anderen. Egal, wie sehr ich es versucht.
Und auch kein Star- egal, wie sehr ich Hannah Montana nachgemacht und imitiert habe.
Ich bin nun aufgefallen und die Anderen kannten mich mal so und mal so.
Es kam ständig zu Konflikten.
In der weiterführenden Schule wurde es noch schlimmer. Ich war entweder zu ruhig oder zu überdreht, habe mich sozial tollpatschig verhalten und war „die Komische“. Auch zu Hause fing mein Bild an, zu wanken und ich war nicht mehr „die Kleine“. Ich isolierte mich und flüchtete mich in die Essstörung- die wiederum meine neurodivergenten Eigenschaften maskierte und mir eine Identität gab.
Wer kennt mich wirklich?- über Innen- und Außenwirkung
Im entfernten Bekanntenkreis und bei der Verwandtschaft erlebt man mich selbstbewusst, humorvoll, funktionierend, unabhängig und organisiert- wenn auch immer mal wieder in irgendeiner Klinik.
Nur die üblichen Fragen nach Arbeit, Uni und Beziehung sind immer wieder ein Thema.
Familienfeiern? Horror.
Wahrscheinlich bin ich für die meisten einfach die ewig Essgestörte. Und wenn ich dann ein gesünderes Gewicht erreicht habe, denken alle: Ist ja wieder alles okay.
Engere Verwandte und Freunde kennen eine ganze Bandbreite an Facetten: Das gesellschaftlich gewünschte Ich, an dem sie sich gerne festhalten und Momente des Glücklichseins. Sie kennen aber auch die emotionalen Aus- und Zusammenbrüche und Momente der Überforderung.
Für meinen Hund bin ich vermutlich ein Dienstleistungsunternehmen und lustiges Frauchen, das Quatsch mit ihm macht und ihn in den Bach springen lässt 🙂
Meine Therapeutin kennt mich.
„Marlene ist“ vs. Ich bin
Ich bin inzwischen an einem Punkt angekommen, an dem ich diese Bilder, die Masking von mir erschuf, einfach nicht mehr aufrechterhalten kann. Es kostet mich zu viel Energie, macht mich kaputt und hindert mich in meinem Selbstfindungs- und Selbstannahmeprozess.
Nie habe ich den Eindruck, authentisch sein zu können. Ich will in all meinen Facetten verstanden werden- und gebe gleichzeitig meinem Umfeld keine Chance dazu.
Was passiert, wenn ich einfach mal Marlene bin?
Einfach Marlene. Autistisch und unmaskiert. Authentisch. Mit Stärken und Schwächen, die sichtbar sind.
Für mein Umfeld wäre das sehr radikal. Ich habe mir mit meinem ausgeprägten Maskierungsverhalten über Jahre wirklich keinen Gefallen getan.
Alle kennen das verzerrte Bild, das massiv erschüttert werden würde.
Die schützende Maske?- Meine Falle.
Unmasking braucht Akzeptanz, nicht nur Mut- meine Ängste und Befürchtungen hier deine Überschrift ein
Ich habe Angst.
Vor den Reaktionen, Rückfragen, Unglauben und Rechtfertigungsdruck.
Vor Invalidierung und Bagatellisierung meiner Diagnosen, meinem Erleben und Empfinden.
Vor Ablehnung und dem Verlust sozialer Bindung.
Vor den Auswirkungen auf mein Selbstbild.
Vor den inneren und äußeren Konflikten.
Aber irgendwie werde ich diese Ängste überwinden müssen. Nicht nur für mich, sondern auch für all die anderen Betroffenen.
Masking und Identität- Camouflaging als gesellschaftlicher Verstärker von Klischees hier deine Überschrift ein
Masking hat nicht nur individuelle, sondern auch soziale und strukturelle Auswirkungen und muss somit gesamtgesellschaftlich betrachtet werden.
Wenn wir uns alle verstecken, entsteht in der Gesellschaft der Eindruck, es gäbe kaum neurodivergente Menschen.
So werden gängige und veraltete Stereotype verstärkt! Insbesondere Frauen, nicht-binäre Personen, People-of-colour oder „zu empathische“ Männer- all diejenigen passen nicht ins Bild.
Wie bleiben so auf mehreren Ebenen unsichtbar: Vor Fachkräften, vor unserem Umfeld und-durch das Ausbleiben von fundierter Diagnostik- vor uns selbst.
Gesellschaftliche Klischees werden verstärkt, der Anpassungsdruck steigt- ein Teufelskreis, der Unmasking unmöglich macht.
Dabei kann Vielfalt nur durch Sichtbarkeit normal werden!
Die soziale Unmöglichkeit des Unmaskings
„Without the shades and the hair you can go anywhere“
Nicht wirklich… Authentizität wird zwar propagiert, aber nicht akzeptiert, wenn sie vom gesellschaftlich gewünschten Bild abweicht.
Nicht immer ist es sicher für uns, authentisch zu sein. Es gibt intolerante Menschen, die Vielfalt ablehnen. Von dem Gedanken, überall unmaskiert sein zu können, muss ich mich verabschieden.
Vielmehr wird es darum gehen, mir sichere Umgebungen und Beziehungen aufzubauen und Vorhandene zu nutzen, in denen ich einfach Sein darf.
Meine Ängste- berechtigt oder nur Befürchtungen?
Ich kann die Reaktionen nicht vorhersehen. Diesen Fakt kann ich natürlich überhaupt nicht leiden.
Dennoch glaube ich wirklich nicht, dass ich bei meiner „Babyfreundin“ auf irgendeine Art der Invalidierung oder Bagatellisierung stoße. Sie wird verwundert sein und berechtigte Rückfragen stellen, dabei aber respektvoll und verständnisvoll bleiben, weil sie das immer ist.
Wir haben uns lieb. Daran wird sich nichts ändern, da bin ich mir sicher.
Meine beste Freundin, die leider seit einigen Jahren nicht mehr in meiner Nähe wohnt, wird vermutlich sehr viel rückblickend verstehen. Ich pflege den Kontakt nicht gut, melde mich ewig nicht, habe häufig aus Überforderung Treffen spontan abgesagt und behandle sie nicht so, wie sie es verdient hat. Meine Neurodivergenz sollte hier keine Rechtfertigung oder Entschuldigung sein, aber eine Erklärung.
Zwar ist es unwahrscheinlich, dass meine Oma zufällig meine Seite im Internet findet, aber auch hier bin ich mir sicher, dass das an unserer Beziehung nichts ändern wird.
Ich bin ihre „kleine Motte“. Ganz egal, wie eigen ich bin.
Beim Rest weiß ich es wirklich nicht, meine Erfahrungen sind da gemischt. Viele werden überrascht sein und vielleicht denken, ich sei jetzt „plötzlich autistisch“ und würde mich darüber zu identifizieren versuchen.
Aber auch Unverständnis und Kommentare wie „So bist du doch gar nicht und warst du nie. Ich kenne dich doch dein ganzes Leben!“ resultieren letztlich nicht aus Ignoranz- sondern aus einem über Jahre aufgebautem Missverständnis.
Ein Ausblick voller Ambivalenz- Zwischen Wunsch und Zweifel
Der Kampf für mehr Sichtbarkeit und narrative Vielfalt neurodivergenter Menschen ist inzwischen meine Passion, mein „Eye Sparkle“, geworden. Ich möchte alles dafür tun, dass wir gesehen, gehört und verstanden werden und zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen.
Ich glaube fest daran, dass wir dann alle unsere Potenziale voll entfalten und gesund, glücklich und erfüllt leben können, wenn Vielfalt gelebt und gefördert werden würde.
Aber bei mir selbst habe ich Angst vor dem Preis des Unmaskings.
Ich habe das Gefühl, mich (erneut) für etwas „outen“, erklären und rechtfertigen zu müssen.
Einen ähnlichen Prozess habe ich letztes Jahr durchlebt, als ich mich vor einem Teil meines Umfelds als queer „outete“.
Auch hier habe ich mir vorher große Sorgen gemacht und hatte Angst vor Ablehnung, Vorurteilen und dem Verlust von Beziehungen.
Tatsächlich hat sich nichts von dem bewahrheitet und für niemanden war es so wirklich eine Überraschung, dass ich mit der heteronormativen Welt nichts anzufangen weiß.
Diversität wird leider noch nicht gesellschaftlich gelebt und es ist schade, dass wir uns für unsere Vielfalt „outen“ müssen. Der Begriff impliziert, dass wir dann irgendwie nicht mehr „dazu“ gehören.
Dennoch frage ich mich, ob mein zweites „Outing“ vielleicht ähnlich gut laufen könnte und es für mein Umfeld doch keine so große Überraschung ist, dass ich auch mit der neurotypischen Welt nicht gut klar komme und andere Bedingungen brauche, um mich entfalten zu können.
Bisher habe ich neben negativen und schmerzhaften auch schöne Erfahrungen gemacht! Eine mir sehr ans Herz gewachsene Mitpatientin meines letzten Klinikaufenthalts hat gerne gesagt:
„Ich mag autistische Marlene! Die ist cool!“ – und mich damit sehr gestärkt und ermutigt.
Vielleicht... Ein vorsichtiger Hoffnungsschimmer
Vielleicht läuft es ja auch gut.
Vielleicht ist mein Umfeld bereit dafür, sich etwas weiterzubilden und sich mit unseren Beiträgen zu beschäftigen.
Vielleicht bauen wir so Klischees und Vorurteile ab und sorgen dafür, dass auch die Vielfalt unter den Vielfältigen verstanden wird.
Vielleicht reflektiert der Ein oder Andere sogar etwas und sieht rückblickend die Parallelen und Hinweise.
Vielleicht werde ich dann endlich verstanden und ich werde für mein Scheitern in der neurotypischen Karrierewelt nicht immer nur auf diese Essstörung reduziert.
Vielleicht werden so sogar noch andere neurodivergente Menschen des Umfelds meines Umfelds erkannt und gesehen.
Dann könnte Unmasking tatsächlich gesellschaftlich etwas verändern und wahre Identitätsentwicklung möglich machen.
Denn: Masking wird zwar praktiziert, um irgendwie in der auf neurotypische Menschen ausgelegten großen Welt existieren zu können.
Aber früher oder später kollabiert das System und wir werden krank.
Unmasking ist die eigentliche Überlebensstrategie.
„Eye Sparkle“ ist ein Begriff, den Chloé Hayden in ihrem Buch „Different, Not Less“ häufig verwendet. Es geht ihr hierbei darum, dass neurodivergente Menschen wertvoll sind und eine Superkraft, einen „Eye Sparkle“, haben. Also etwas, wofür wir eine Leidenschaft entwickeln, uns für begeistern und unsere Augen zum Leuchten bringen können.
Manchmal müssen wir unseren „Eye Sparkle“ erstmal selbst entdecken, um ihn entfalten zu können.
Wir sind anders, aber deshalb keinesfalls weniger.
Dieser Ansatz hat mich im Thema Masking und Identität sehr gestärkt und mutiger gemacht, mich zu zeigen.