Hochmaskierter Autismus- eine unsichtbare Realität
Meine ersten therapeutischen Erfahrungen- die Klinikzeit
Tatsächlich sind bereits während meines ersten Klinikaufenthalts vor über 10 Jahren aus therapeutischer Sicht Auffälligkeiten festgestellt worden, die damals allerdings noch niemand einer ASD zugeordnet hat.
Ich zeigte gravierende soziale Unsicherheiten, Ängste und Zwanghaftigkeit. Zudem hatte ich keinen Zugang zu mir selbst, meinen Körperempfindungen oder meinen Emotionen- ich konnte sie nicht identifizieren oder deuten und fand dementsprechend auch keinen Umgang damit. Ich fühlte mich entfremdet und sah in großen Veränderungen meiner Selbst, wie dem Erwachsenwerden eine Bedrohung meiner Rolle und Identität.
Auf die Therapeut:innen wirkte ich ängstlich und verunsichert, ich setzte kaum Mimik an und hielt wenig bis keinen Blockkontakt.
Obwohl ich auch damals schon sehr feinfühlig war, konnte ich keine Bildkarten deuten und richtig identifizieren, auf denen Menschen mit bestimmten Gefühlen oder Emotionen abgebildet waren. Auch im sogenannten „Soziale Kompetenz-Training“ hatte ich enorme Schwierigkeiten, die Inhalte zu verstehen oder anzuwenden. Sie waren für mich nicht greifbar und zugänglich. Die Gruppentherapien überforderten mich überwiegend und besonders die Einheiten mit Vertrauensübungen und Körperkontakt machten mir große Angst.
Zwischen Missverständnissen und guten Absichten
In einer Umgebung voller Reizen, Gruppensettings und sozialer Interaktion hatte ich das starke Bedürfnis nach Rückzug. Ich wollte einfach nur in meinem Zimmer bleiben, lesen und Tagebuch schreiben, doch das wurde ausschließlich als depressive Symptomatik interpretiert. Somit wurde als therapeutische Intervention versucht, mich mit festen Zeiten, in denen ich mich im Gemeinschaftsbereich aufhalten oder zu den Co-Therapeut:innen gehen sollte, zu sozialen Kontakten zu motivieren.
Ich verstehe es, dass Rückzugsverhalten natürlich auch immer eine depressive Komponente hat und es Teil der Therapie ist, soziale Kontakte und Aktivitäten wieder aufzubauen. Wenn eine 14-jährige Patientin Abwehrhaltung gegenüber Therapien zeigt, so ist es naheliegend, dies als fehlende Compliance und Trotzverhalten zu werten. Ebenso ist es nachvollziehbar, den fehlenden Blickkontakt als Ausdruck mangelnden Selbstbewusstseins und allgemeiner Unsicherheit zu verstehen- und daran therapeutisch anzusetzen.
Zu früh geboren, zu spät verstanden
Ich frage mich manchmal, was gewesen wäre, wenn der Stand der Wissenschaft einfach schon weiter gewesen wäre. Wenn Ärzt:innen und Therapeut:innen dafür sensibilisiert gewesen werden, dass es autistische Mädchen gibt. Wie verdammt hoch der Anteil autistischer Menschen mit Essstörungen ist. Und, wie sich hochmaskierender Autismus bei Mädchen äußern kann.
Vielleicht hätte dann jemand alles miteinander kombiniert und ich hätte möglicherweise damals schon Klarheit gehabt.
Doch ich kam einfach zu früh und an Stelle von Autismus wurde mir eine „leichte soziale Beeinträchtigung“ zugeschrieben.
Vertrauensprobleme, Alexithymie, Distanz- die therapeutische Beziehung im ambulanten Bereich
Bei ambulanten Therapeut:innen scheiterte ich immer wieder daran, das notwendige Vertrauen, Bindung und Beziehung aufzubauen. Ich konnte mich einfach nicht öffnen. Ich wusste nicht, wie- und ich wusste auch selbst nicht, was mit mir los ist.
Ich wusste nur: ich bin anders und emotionale Nähe fühlt sich nicht gut an.
Die Therapie war erschwert durch meine Rigidität, meinem starren und unflexiblen Denken, meiner Angst vor Veränderungen sowie dem Bedürfnis nach Gleichheit, Beständigkeit, Vorhersagbarkeit und Routine. Das Problem, trotz hoher therapeutischer Motivation auf der Verhaltensebene nichts ändern zu können, schien unlösbar.
Zudem erschwerte meine Alexithymie, der fehlenden Zugangs zu mir selbst und zu meinen Gefühlen, die Therapie erheblich. Es war den Therapeut:innen unmöglich, zu mir durchzudringen.
Der fehlende Zugang zu mir selbst und meinen Gefühlen sowie meine Stimming-Methoden wurden kommentiert, bewertet, korrigiert:
„Keine Ahnung ist kein Gefühl!“
„Jetzt hör mal auf, ständig an deiner Kleidung zu zuppeln!“,
„Jetzt beißt du dir ja schonwieder auf die Lippen!“,
„Lass doch mal deine Hände/ Haare in Ruhe, leg sie einfach flach auf den Schoß!“,
„Was machst du da eigentlich immer mit deinen Händen?“.
Ich blieb ein großes Fragezeichen- distanziert, abgeklärt, starr und gleichzeitig ängstlich und verunsichert.
Auch im ambulanten Setting wurde dies als Trotzverhalten und fehlende Compliance verstanden und hat zu diversen Abbrüchen der Therapie von Seiten der Therapeut:innen geführt.
Rückschläge und belastende Fehlinterpretationen- meine tiefenpsychologische Behandlung
Besonders frustrierend waren meine Erfahrungen bei einer tiefenpsychologischen Therapeutin. Sie war die erste, bei der ich mich traute den Verdacht zu äußern, evtl. auf dem Spektrum zu sein. Sie hat mich zurückgewiesen, nicht ernst genommen und gesagt, ich sei einfach nur zwanghaft. Mein starres und unflexibles Denken, die Angst vor Veränderungen sowie das starke Bedürfnis nach Routine, Beständigkeit und Gleichförmigkeit erklärte sie sich mit einer Zwangsstörung oder wertete dies als fehlende therapeutische Mitarbeit. Weiter wollte sie das Thema nicht mehr vertiefen. Und ich nach dieser Zurückweisung auch nicht.
In ihrem Abschlussbericht an meine jetzige Therapeutin betonte sie mehrfach und deutlich, wie uneinsichtig ich war, dass ich nicht bereit war, mich auf die Therapie einzulassen oder mein Verhalten zu ändern. Stilbewusst tiefenpsychologisch führte sie meinen „Widerstand“ auf eine „unbewusste Reinszenierung der Beziehung zur Mutter“ zurück und schrieb mir dann noch, ohne dies jemals mit mir zu kommunizieren, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu.
Ich habe mich der Therapie nicht verweigert oder etwas ohne Begründung abgelehnt. Ich habe versucht, zu verdeutlichen, wieso ich keine Gruppentherapie oder Yoga in einer Gruppe machen möchte. Ich habe trotz meiner Abneigung nach geeigneten Gruppen gesucht, aber keine gefunden. Yoga habe ich allein zu Hause gemacht. Ich bin jede Woche 30min zu ihr gefahren gefahren, 50min geblieben und 30min wieder zurückgefahren.
Ich wollte gesund werden- ich wusste nur nicht wie und mir hat ein konkreter Plan gefehlt. Jeden verdammten Tag war ich frustriert darüber, wie unglaublich schwer es mir fiel, wirklich etwas zu verändern und meine Routinen zu flexibilisieren. Aber es gelang mir einfach nicht.
Panikattacken, Dissoziation und Medikation statt Verständnis- Klinik Nummer 2
Auch im Rahmen meines zweiten Klinikaufenthalts gab es Anzeichen. In meinem Entlassbericht steht beispielsweise, dass meine Art zu sprechen „flüssig und ausreichend informativ“ sei, während die „Persönlichkeiten der Familienmitglieder eher blass“ geblieben seien. Der sparsame Einsatz von Mimik ist aufgefallen und wurde mit reduzierter affektiver Resonanz sowie allgemeiner Empfindungslosigkeit begründet- und damit der depressiven Symptomatik zugeordnet. Zwar fielen auch hier mein starres und unflexibles Denken und das Einhalten von festen Ritualen auf, wurde aber auf die Essstörung zurückgeführt.
Auch wird beschrieben, dass ich nur sehr langsam Vertrauen in der therapeutischen Beziehung aufbauen und mich nicht öffnen konnte. Ich hatte gravierende Schlafstörungen und Anspannungs- und Angstzustände bis hin zu Panikattacken, besonders im Rahmen der Gruppentherapien.
Die dort integrierten Vertrauensübungen, erzwungene Partnerarbeit mit Körperkontakt zu mir nicht vertrauten Personen- das war alles viel zu viel und unerträglich für mich! Anfangs versuchte ich noch, Panikzustände irgendwie auszuhalten. Doch sie wurden so heftig, dass ich einfach rausrennen musste. Von den TherapeutInnen bekam ich zwar keine direkten Vorwürfe, allerdings wurde mein Verhalten als Vermeidung oder irgendeine Art von Retraumatisierung interpretiert. Sie hätten sich gewünscht, ich wäre in der Lage gewesen, meine Bedürfnisse zu kommunizieren und die Teilnahme an der Gruppentherapie aufrechtzuerhalten. Ich jedoch wusste selbst nicht, was passiert und war einfach nur überwältigt. Entweder gerate ich dann in dissoziative Zustände, in denen ich mich nicht mehr verbal äußern kann, oder ich bekomme Panikattacken, fange an zu Schwitzen, habe Herzrasen, Schnappatmungen- und muss sofort aus der Situation raus.
Leider verstand damals niemand meine extremen Reaktionen- mich eingeschlossen. Statt mit Rücksichtnahme und Verständnis zu reagieren und mir die Möglichkeit zu geben, die Situation jederzeit zu verlassen und dies nicht als fehlende Compliance zu werten, bekam ich dann ein Notfallmedikament. Es war ziemlich stark und für mein Körpergewicht wahrscheinlich noch zusätzlich zu hoch dosiert war- ich war dann einmal ausgeknockt und habe erstmal geschlafen.
Der lange Weg
Nach Entlassung war ich wieder bei der bereits erwähnten Tiefenpsychologin in Behandlung, bis die Stunden aufgebraucht waren.
Es dauerte noch weitere 2,5 Jahre, bis ich meine Diagnose erhielt.
Von Beginn der Essstörung bis zum Erhalt meiner Autismus-Diagnose waren insgesamt 10,5 Jahre vergangen, in denen ich bei insgesamt 5 verschiedenen ambulanten Therapeut:innen und in zwei unterschiedlichen Kliniken war.
Ein langer Weg, der Spuren hinterlassen hat.